Das große Schweigen
Endlich haben Esther, Laura, Daniel und Soska mal wieder Zeit für einen gemeinsamen Abend gefunden. Die Fourtysomethings – bestens ausgebildet, sozial engagiert und tendenziell kosmopolitisch – sind früher, in der Endphase der DDR, gemeinsam zur Schule gegangen. Jetzt plaudern sie über gehobene Kochkünste, ihre Kinder und ihr erfolgreiches Berufsleben zwischen London, Paris und New York. Alte Flirts werden reaktiviert und verblasste Nachwende-Erfahrungen memoriert in dem reichhaltigen Zweistünder „Stummes Land“ des MülheimDebütanten Thomas Freyer.
Der Uraufführungsregisseur Tilmann Köhler hat das Publikum am Staatsschauspiel Dresden im Viereck um eine minimalistisch ausgestattete Spielfläche gruppiert. Gleichsam als Partygäste der zweiten Reihe nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer am zunächst locker dahinplätschernden Smalltalk teil. Doch was als scheinbar harmloses Konversationsdrama einer weithin anschlussfähigen Peergroup beginnt, wie man sie auf den ersten Blick tatsächlich nicht nur in Dresden oder Leipzig, sondern auch in München oder Hamburg verorten könnte, entwickelt sich bald zu einer spezifischen historischen Tiefengrabung: Erst treiben exzessiver Weingenuss und Soska, der ewige Provokateur der Runde, die Freunde dazu, sorgsam verborgene Abgrenzungstendenzen zu offenbaren: Ein ausgeprägtes „Wir-Die“-Bewusstsein zeigt sich, teilweise bis hin zum Rassismus. Und dann finden sich die vier Schauspielerinnen und Schauspieler – in einem formal komplett veränderten zweiten Teil des Stückes – plötzlich in der Zeit ihrer Eltern- und GroßelternGeneration wieder.
In modellhaften Momentaufnahmen verlebendigen sie – aus Kindersicht – exemplarische Fälle vom Verschweigen und Verbiegen der Geschichte; graben sich regelrecht hinein in die historischen Spuren, die sie zwischen staubigen Aktendeckeln finden: Zeugnisse von kommunistischen Großvätern, die im nationalistischen Rechtsaußen-Ton den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 abkanzeln, Dokumente von StasiVätern, die zu Spionagezwecken mit Altnazis kollaborieren, Momentaufnahmen antifaschistischer Gedenkveranstaltungen mit bloßem Lippenbekenntnischarakter. Was alle Fälle verbindet, ist – der Stücktitel, „Stummes Land“, spricht es klar aus – eine massive Verdrängungsund Sprachlosigkeitstragödie zwischen den Generationen, selbst im intimsten Kleinfamilienkern.
Umfassend hat Thomas Freyer die nationalistische Basis des real existierenden Sozialismus recherchiert für dieses zeitenübergreifende OstdeutschlandTriptychon, das – in einem wiederum formal anderen dritten Teil – schließlich in einer einzigen, aus der DDR-Historie herausführenden Gegenwartsanklage kulminiert, die auch kein realkapitalistisches Defizit auslässt.
Christine Wahl