Jenseits von Rente
Inzwischen sind einige Jahre vergangen, seit aus dem jungen Mädchen eine Frau und die Mutter geworden ist, die von ihrer lebenstüchtigen Tochter einiges lernen konnte. Etwas später wusste sie nicht mehr so ganz genau, ob sie noch richtig am Platz war oder nicht doch ins All flüchten sollte. Und jetzt? Die Frau, der Sibylle Berg eine Tetralogie gewidmet hat, ist in einem Alter angekommen, in dem man nicht mehr so schnell vor sich selbst flüchten kann: jenseits von Rente oder vielleicht sogar schon im „Vorzimmer des Leichenschauhauses“. Und siehe da, plötzlich werden mitten im spitzzüngigen Sarkasmus Sibylle Bergs sanftere Töne hörbar. Zum Beispiel, wenn es um die Zeit geht, als die Frau ein 13-jähriges Mädchen war, Musik hörte und darauf wartete, dass alles besser wird. „Das ist ein Lied für dich, junger Mensch. Ein Lied gegen die Angst, du könntest nicht genügen. Ein Lied gegen die Sorgen in der Nacht, wenn du nicht schlafen kannst, weil du glaubst, du wärst der einzige Mensch auf der Welt. Der einzige hässliche.“
Aber keine Sorge, Sibylle Berg ist weit davon entfernt, ein altersmildes Requiem zu intonieren. Ganz im Gegenteil. „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ ist zwar ein Text, den man wie eine Lebensbilanz lesen kann, er ist aber weiterhin mit nervöser Unruhe gefüllt, als wolle eine nicht mehr ganz so junge Frau weiterhin die Welt verändern, die sie irgendwann dann doch verlassen muss. Zwar ist sie keine zwanzig mehr und in der dummen Lage, vom bewaffneten Widerstand zu träumen, ohne zu wissen, gegen wen er sich richten könnte. Widerständig ist sie aber immer noch, auch wenn ihre einzige Waffe inzwischen dieses Gefährt ist, das sie ja nicht wirklich braucht und nur mit sich führt, weil es sich so prima als fahrendes DJ-Pult nutzen lässt. Gut an ihm festhalten kann man sich übrigens auch, wenn man gerade mal nicht zur melissenhaften Heilkraft der Natur, sondern lieber gleich zu hochprozentigem Kirschsaft gegriffen hat.
Sibylle Berg hat einen „Text für eine oder mehrere F“ geschrieben. Sebastian Nübling, den man getrost als Bergs treuesten Partner eines inzwischen doch ziemlich langen Theaterlebens bezeichnen kann, hat aus „mehrere“ ein Quartett gemacht und das wiederum hat zur Folge, dass Anastasia Gubareva, Svenja Liesau, Vidina Popov und Katja Riemann die Bühne rocken, als sei Janis Joplin auferstanden und turne in einem sackähnlichen Leopardenkleid über die Bühne. Damals ging es um Bobby McGee und dass Freiheit nur ein anderes Wort dafür ist, nichts mehr verlieren zu können. Heute könnte sie sich die Freiheit nehmen, etwas kürzer zu treten. Bevor sie irgendwann ganz verschwinden wird, sorgt sie dann aber doch lieber dafür, dass sie noch einmal so richtig sichtbar wird: als Ladykombo, die sich auf etwas stützt, das nur auf den ersten Blick wie ein Rollator aussieht und technisch so ausgestattet ist, dass man mit ihm ein Frauendasein orchestrieren kann.
Jürgen Berger