Das große Gezwitscher
Es lohnt sich, den Vögeln Beachtung zu schenken, weiß Carmen Jeß von ihrer norddeutschen Großmutter. Die hat sie als Kind auf das Flöten des „Bookpink” aufmerksam gemacht, plattdeutsch für Buchfink. Als einer von 18 Vögeln bevölkert er nun das gleichnamige „dramatische Kompendium”, das sich aus sieben Kurzdramen zusammensetzt. Neben den Vögeln zählen aber auch einige (wenige) Menschen, weitere Tiere und Pflanzen sowie eine „gepflasterte Auffahrt” zu den dramatis personae: Alles, selbst unbelebte Materie, ist bei Jeß Teil des großen kleinen Weltdramas. Im alten Genre der Tierfabel agieren Tiere menschliche Konflikte aus, werden moralisch korrekte Verhaltensweisen über die Bande vermittelt. Von dieser didaktischen Funktion ist in Jeß’ Tierdramen nicht viel zu spüren, umso mehr von der Vermenschlichung, die sich in spezifischen Sprachen ausdrückt: So träumt sich die weiße Taube in barocker Kunstsprache vom hochsommerlichen Campingplatz in eine PrinzessinnenExistenz mit Kammerzofe und Festbankett und erzählt zugleich eine Vanitas-Allegorie. Gekonnt dröselt Jeß die Psychodynamik einer schwierigen Mutter-Kind-Beziehung auf, indem sie die Flamingos auf einem Kinderspielzeug bei der Vorbereitung eines Sabotage-Akts belauscht. Sie lässt ein Meisen-Trio „das Männchenhafte” beschwören, welches ein vierter, die queere Sumpfmeise, abgestreift hat, und diskutiert im Wissenschaftsjargon die Existenz des freien Willens anhand einer Versuchsanordnung, in deren Zentrum ein eingesperrter Bussard steht. Oder die geschäftstüchtige Pute! Sie bringt Hahn und Huhn dazu, ihr für lau ein esoterisches „Energiezentrum” zu bauen. Die sogenannten Unkräuter – Caren Jeß nennt sie bei ihren lateinischen Namen – in den Ritzen der „gepflasterten Auffahrt” setzen sich gegen strukturellen Rassismus zur Wehr. Und gleich zu Anfang spreizt der „Dreckspfau” im Sound eines halbwüchsigen Gangsta-Rappers seine Federpracht nach allen Regeln der Kunst. „Wenn ich mich in drei Worten beschreiben würde“, setzt er an und braucht dann gleich mehrere Sätze. Der privilegierte Spatz – „hübsch, klug, quicklebendig” – dagegen charakterisiert den Dreckspfau mit nur drei Worten: „Neid, Neid, Neid.” Mit subtilem Sinn für Komik und Sprachparodien macht Caren Jeß aus jedem Minidrama ein funkelndes Kunstwerk mit eigenem Konstruktionsplan – weshalb sich auch die Grazer Uraufführung in der Regie von Anja Michaela Wohlfahrt auf das gesprochene Wort konzentriert. Zugleich ist jede dramatische Tierfabel Mosaikstein im großen Gezwitscher eines Gesellschaftspanoramas, dessen Formenreichtum unerschöpflich scheint. Ein Plädoyer für Artenvielfalt und Diversität. Noch schöner fasst die Autorin selbst es zusammen: „Wenn ich in drei Worten beschreiben sollte, worum es in Bookpink geht, dann würde ich sagen: Chancenungleichheit, Religion, Konstruktivismus, Esoterik, Exotismus, eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung, Gender, Geschlechtervielfalt, der Kampf um Gleichberechtigung, Einsamkeit, Barock, Pommes, Asbest, Vernunft, eine rote Tulpe, eine selbstverliebte Narzisse … aber fragen wir doch am besten die Vögel selbst!”
Eva Behrendt