Schluss mit den Ausflüchten!
Weiß ist eine heimtückische Farbe. Vor allem blendendes Weiß. Das Münchner Residenztheater wählt für die Uraufführung von Ewald Palmetshofers neuem bürgerlichen Drama Die Verlorenen einen maximal ausgeleuchteten Guckkasten. Das ist kein Ort für Ausflüchte. Kein Versteck, nirgends. Hier treffen wir Geschiedene, Gescheiterte. Von Unschuld kann bei Die Verlorenen jedenfalls keine Rede sein. Von einem unbeschriebenen Blatt mag bei dem 41-jährigen gebürtigen Österreicher auch niemand mehr sprechen, nicht bei so einer ausnahmslos hochklassigen Werkliste. Den Mülheimer Dramatikerpreis gewann Palmetshofer 2015. Zuletzt war er 2018 mit der Gerhart-HauptmannÜberschreibung Vor Sonnenaufgang im Wettbewerb. Ein unbeschriebenes Blatt findet sich in der Uraufführungsinszenierung gleichwohl auf der Bühne wieder, riesenhaft vergrößert allerdings, in Form der aus dem Guckkasten ausgeschnittenen Rückwand.
Diese Wand und diese Welt verdecken, dass hinter ihnen schwärzeste Finsternis lauert, verraten sich aber durch ihren Trauerrand (Bühne: Irina Schicketanz, Licht: Tobias Löffler). Dann hängt dort auch noch so ein schlichtes schmales Christenkreuz. Und davor, vor dieser monumentalen Kondolenzkarte, versammeln sich Die Verlorenen eingangs zum Tableau: ein Chor, zehnköpfig, gekleidet in biederbürgerliche Beigetöne. Einzelne treten heraus, erzählen eine Anekdote, variieren wie Solisten einer Jazzcombo das Leitthema, und das dreht sich um existenzielle Entfremdung, die sich manchmal in den kleinen Dingen äußert. In der grotesken Wut vielleicht, die einen vorm Spiegel einen Pickel am Nasenflügel bis aufs Blut bekämpfen lässt. In der abfälligen Art, in der ein älterer Herr beim Blutzapfen im Spital abgefertigt wird. In den boshaften Gedanken, die einen just beim Eltern-Smalltalk auf dem Spielplatz erwischen. Das alles erzählt in diesem wunderlich verdrehten, knorrig-eleganten PalmetshoferDeutsch, das der Autor und Dramaturg auch schon in früheren Stücken zur sprechrhythmischen Perfektion getrieben hat, am Wiener Burgtheater oder am Theater Basel. Stärker kann man kaum in ein Stück einsteigen. Symbolhafter eigentlich auch nicht. Allerdings will Palmetshofer zu viel. Der Autor behelligt seinen Chor mit Grübelanfällen beinahe kosmischen Ausmaßes. Das klingt metrisch streng und etwa so: „Die Kugelerde ist ein heißer Ball im All und wir hinieden, hebt uns keiner keine auf.“
Geschickterweise reicht Regisseurin Nora Schlocker den nihilistischen Furor des Chors direkt an die Protagonist:innen und ihre sehr prosaischen Alltagssorgen durch. Wir treffen Clara, Anfang 40, die soeben an der Tür ihres Ex-Manns Harald schellt. Clara eröffnet Harald und seiner Neuen, dass sie sich eine Auszeit von allem nimmt – und damit auch von der Erziehung des pubertierenden Florentin, der sich derzeit zu einem üblen Früchtchen fehlentwickelt. Ein prekäres Patchwork-Drama tut sich auf. Palmetshofer erzählt es pointiert, aber immer beherzt an der Seite jeder Figur und ihrer Nöte.
Stephan Reuter