Mutter der Unbequemlichkeit


Diskurs

Ein altes Ladenlokal in der Mülheimer Innenstadt. Große Glasscheibenfront auf die Einkaufsmeile hinaus, im Hintergrund verwirrende Kunstwerke und zusammengewürfelte Möbel. Der Innenraum ist düster und spartanisch eingerichtet, auf den frei liegenden Rohren liegt Staub. Auf den ersten Blick scheint das Lokal nicht in Betrieb zu sein. Halbdunkel. Außen schieben sich die Schnauzen von Autos an der Glasscheibe vorbei, parken oder fahren nach einiger Zeit wieder weg, wie Schiffe, die einen Hafen passieren. Eine Frau im Kapuzenpulli sitzt am Tisch in der Mitte des Raumes im Schein einer einzigen Lampe, um sie herum mehrere Bücher. Sie tippt eifrig, legt ihren Kopf in die Hände, atmet durch. Ein leises Tippen ist zu hören. Eine Frau stürzt herein, schaut sich panisch um, wedelt mit einem sehr dicken Skript herum, entdeckt die andere Frau und läuft dann zielstrebig auf das Licht der kleinen Lampe zu.*

Katrin: LENA! Endlich hab ich dich gefunden. Lena schaut erschrocken hoch.

Lena: Katrin, was ist los? Du bist ja ganz aufgelöst.

Katrin: Ich habe angefangen, dieses Jelinek-Stück zu lesen. Es ist ausschließlich Prosa! Der Text fließt nur so, keine Figuren, keine Handlung. Worum geht es denn da überhaupt? Ich kann das echt nicht zu Ende lesen… Katrin greift sich verzweifelt in die Haare.

Lena: Setz‘ dich erst mal. Katrin setzt sich nervös, späht auf die Uhr an der Wand, es ist Montag. 02:47 nachts. Wir sprechen über SCHNEE WEISS (Die Erfindung der alten Leier) und du sagst, dass du im Text kein Thema richtig klar beschrieben findest. Das sehe ich anders. Lass uns mal in den Text schauen. Katrin legt das Skript auf den Tisch, sie räumen die Bücher zur Seite, ein paar fallen auf den Boden, egal. Sie schlägt die erste Seite auf. 

Katrin deutet mit dem Finger auf die Mitte des Textes auf der ersten SeiteAllein dieser Satz hier, der geht über 14 Zeilen, hat zwölf Kommata und es werden fünf Aspekte angesprochen! Es gibt keinen Absatz zum Luft holen, kein Ziel, auf das er inhaltlich hinausliefe. Der Text schreit mich förmlich an: Ich bin kompliziert!

Lena: Okay. Aber schauen wir uns diesen Satz an: „Wer mit Klagen droht, erlebt sein weißes Wunder” – den finde ich sehr konkret, wenn ich an #metoo und den Skisport in Österreich denke. Die Doppeldeutigkeit ist doch großartig verschachtelt, oder? Ich denke, es hilft, sich bei Jelinek vorher die Themen, die sie behandelt, vor Augen zu führen: Sie möchte in diesem Text sexuelle Übergriffe im österreichischen Skisport, die auch unter #metoo erschienen sind, thematisieren. Sie schreibt aus der Perspektive einer radikalen Feministin, das beinhaltet immer eine Kritik am patriarchalen System.Und am Ende ihres Textes nennt sie sogar einige intertextuelle Referenzpunkte: Oskar Panizza: das Liebeskonzil / Sophokles: Die Satyrn als Spürhund / Euripides: Die Mäanden / Marie Bonaparte: Über die Symbolik der Kopftrophäen / Sigmund Freud: Psychologie des Unbewußten: Fetischismus / Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I Zur Genealogie der Moral / Und vieles mehr. Kommen Sie nur herein!” Theoretisch müsste man diese Texte vorab kennen, um ihren Text zu vollständig entschlüsseln zu können. Stell dir mal ihre Textkenntnis vor! Die zeigt sich natürlich in dieser Aufzählung der Referenztexte. 

Katrin: Auf jeden Fall!  Ihre Wortgewandtheit beeindruckt mich auch. Sie bringt andauernd umgangssprachliche Redewendungen ein, die in ihrem Stück minimal verändert sind. So wirkt es oft ironisch und sarkastisch. Zum Beispiel: „Schnee drüber” statt „Schwamm drüber“ oder sie spielt mit der Adressierung: „[...] man darf sich nicht gegen den eigenen Willen küssen [...]”. Solche Wortfeinheiten lassen mich immer aufhorchen und füllen den Text meiner Meinung nach mit mehr Leben. Für mich sind aber die Übergänge zwischen Jelineks eigenem Stück und den Einschüben der intertextuellen Bezüge nicht klar. An einer Stelle zum Beispiel bringt sie Theorien von Freud über Fetische und wechselt dann im nächsten Satz zur Figur Salome, die ja in der Bibel vorkommt. Wie sortierst du da deine Gedanken, wenn das Wortgewitter so vor dir liegt und gelesen werden will?

Lena: Das ist schwierig, ja. Beim ersten Lesen kann man sicher auch nicht alle Anspielungen verstehen, eben weil Jelinek sie nicht markiert, wie man im klassischen Sinne ein direktes Zitat markieren würde. Tatsächlich befrage ich oft Google, wenn mir Fremdtexte auffallen, ich aber nicht weiß, woher sie stammen. 

Katrin: Für mich bleibt trotzdem das Problem, dass der Text keinem klassischen roten Faden folgt und es eher ein Gedankenfaden ist, der sich im Stück erst nach und nach entwickelt. Mich verwirren außerdem die Fragen, die mitten in diesen Gedankenfäden auftauchen. „[...] wie hätten wir es sonst verstehen sollen?, was wollte sie damals verbergen, was sie Jahrzehnte später so tüchtig enthüllt, sie findet gar kein Ende mehr? [...]”. Das sind nur einige der vielen Fragen, die in die Sätze mit eingebaut werden. Das macht alles noch komplizierter…

Lena: Das sind doch Fragen, die im Diskurs über das Thema auftauchen, die Jelinek einfach nur ausspricht. Sie spricht aus, was alle denken und wie verwirrend alle diesen Diskurs empfinden, es gibt so viele Meinungen, die man nicht alle im Blick behalten kann und die einem immer wieder entgleiten. Wie dieser Text. Ich glaube Jelinek führt uns vor, dass man nicht alles verstehen kann.

Katrin: Mhm… Kneift die Augen zusammen und blättert ein bisschen in Jelineks Text herum. Relativ am Anfang tippt sie auf eine Stelle unten auf der Seite. Wenn wir grad von Verständnis sprechen, da fällt mir auch dieser Satz ins Auge: „wo man nicht gleich auf sie reinfällt, und still sich selbst befriedigen, wenn kein andrer da ist; jede hat eine, hat jede einen Gott?, einen Gott?, einen Gott?”.  Das musst du dir dreimal durchlesen und fragst dich immer noch, warum Frauen im gleichen Atemzug mit Gott genannt werden. Schüttelt verärgert den Kopf und schlägt die Beine übereinander. 

Lena: Bei Jelinek geht es doch meist um die Verknüpfung verschiedener Diskurse. Das heißt, es geht um die sprachliche Ebene, da Diskurse über Sprache geformt werden. Und in diesem Stück sind das die Themen Sexualität und Religion (unter anderem). Es geht auch darum, zu zeigen, wie verschiedene Diskurse sich gegenseitig beeinflussen, einander decken oder verändern können. Ein Diskurs ist ja in stetiger Veränderung.  

Katrin: Wieso gibt Jelinek dem Leser oder Regisseur eigentlich keine Hilfe, indem sie ihren Bewusstseinsstrom zügelt und dem Lesenden eine Richtung weist, wie die Inhalte zu sehen sind? Es gibt im Text zum Beispiel keine Regieanweisungen. Inhaltlich verdichtet die Autorin auch nichts, im Gegenteil, sie spinnt vielmehr ein Inhaltsgeflecht, indem die Themen übereinander und nebeneinander herfallen. 

Lena: In meinen Augen formuliert Jelinek deshalb nicht klar und eindeutig, weil sie die Rezipienten zur Reflexion einladen, besser gesagt sie dazu zwingen möchte. Schriebe sie, Figur xy sagt das, könntest du dich wahrscheinlich weniger identifizieren. Es geht darum, in den sprachlichen Diskursen aufzudecken, was wir täglich reproduzieren. 

Katrin lehnt sich im Stuhl zurück. Eine kurze Pause entsteht, dann schmunzelt sie: Ich bin letzte Woche übrigens auf noch jemanden gestoßen, der Jelineks Texte offenkundig als schwierig einordnet. Der Autor Clemens Setz schreibt in Die Abweichung: „Emily gespielt mitleidig: Awww, armer Tom, muss Jelinek lesen“. Beide schmunzeln.

Sie blicken auf die Uhr an der Wand. Sie zeigt 03:30, der Zeiger kriecht über die mit Zahlen bedeckte Platte.Die beiden Frauen packen ihre Sachen zusammen und gehen aus dem Ladenlokal. Die Schreibtischlampe sieht verloren aus auf dem riesigen Tisch. Autos fahren keine mehr vorbei. Die Stadt schläft. Mit den Gedanken an Gott, metoo, Ski fahren und komplizierte Texte gehen die beiden in Gedanken vertieft in die Blogger-Wohnung. Morgen ist ein neuer Tag mit Theater.

 

* In Anlehnung an frühere Stücke, in denen die Autorin noch mit Figuren gearbeitet hat.