Kopfradio der Konventionen


Diskurs

„London Bridge ist falling down, my fair Lady, mh mh mh mmh“ – rauscht es in Dauerschleife in meinem Kopf, als ich abends das Mülheimer Theater an der Ruhr verlasse. Ich habe einen Ohrwurm. Nach der Aufführung von E. L. Karhus „Prinzessin Hamlet“, laufe ich summend zur Bahnhaltestelle. Im Stück ist es der Palastchor, der stets dieses eine Lied singt. Als die Prinzessin nach ihrem ersten Selbstmordversuch in dem als Psychiatrie skizzierten Buckingham Palace in London landet, schließt sie sich diesem Chor an. Die puppenartigen Chorfiguren summen mechanisch, als wollten sie Kinder zum Einschlafen bringen. Ein einfacher Text, eine einfache Melodie, ein Singsang. Im Chor ist jeder gleich, im Chor kommt es nicht auf Individualität an, man reiht sich ein und verschwindet in der Masse. Prinzessin Hamlet singt mit und ist zunächst begeistert: „Ich fühle mich hier sehr wohl (…). Hier muss ich niemand sein.“

So ist es auch mit Konventionen, die in unseren Worten und in unserem Handeln Ausdruck finden. Eben weil sie schon so lange in der Gesellschaft und bei so vielen Menschen verankert sind, werden sie oft nicht hinterfragt, sondern einfach übernommen. Wie starr zum Beispiel sind Geschlechterzuschreibungen? Welche Verhaltensmuster verbinden wir konventionell mit dem Frausein? Woran denken wir, wenn wir uns eine zukünftig regierende Frau vorstellen? Und wie unterscheiden sich die Bilder, wenn wir an einen Mann in derselben Position denken?

Von "Boys don't cry" bis "Barbie Girl"

Die finnische Autorin E. L. Karhu spielt mit solchen Stereotypen, mit gesellschaftlichen Vorstellungen, mit Konventionen. In ihrem Stück verändert sie die Geschlechter der Figuren – Prinz Hamlet wird zu Prinzessin Hamlet, HoratiO zu HoratiA, die Hofdame, und Hamlets Verehrerin OfeliA zu OfeliO. Kurz: Die Tragödie wird gespiegelt.

Und wieder singt eine Stimme in meinem Ohr. Denke ich an Geschlechterdefinitionen, höre ich „Boys don’t cry“ von The Cure und die Band Aqua fällt mit „Barbie Girl“ in den Chor ein. So läuft das Radio in meinem Kopf. Das Band wurde schon eingesprochen, da war meine Generation noch klein. Und da läuft es jetzt seit unserer Kindheit entschieden zu häufig im Radio und wir alle können es auswendig mitsingen und plappern es nach, denn es ist ja so einfach und wir haben es schon so oft gehört. Aber was da eigentlich gesungen wird, das weiß man oft gar nicht mehr.

Gesellschaftliche Konventionen ähneln in vielerlei Hinsicht Ohrwürmern: Irgendwie nerven sie, aber man wird sie auch nicht so leicht los. 

Absolut sicher ist sich das Radio in unseren Köpfen zum Beispiel darüber, dass die Farben Rot und Rosa, Pink und Lila Weiblichkeit ausdrücken, während Blau für Jungen und Männlichkeit steht. Das lässt sich zum Beispiel auf sogenannten „Gender Reveal“ Partys beobachten. Bei diesem Trend aus Amerika werden Feste organisiert, auf denen werdende Eltern das biologische Geschlecht ihres Kindes verraten, und zwar mit Hilfe der Farbensymbolik. Da gibt es beispielsweise Kuchen aus roter oder blauer Backmischung oder Heliumluftballons in entsprechender Farbe. Ist das Innere des Kuchens Rot oder Rosa, ist für alle Partygäste klar: Das Kind ist ein Mädchen. Sind die Luftballons Blau, wird es ein Junge. 

Schöne Frauen auf der Bühne

Dabei war das Anfang des 20. Jahrhunderts übrigens noch andersherum: Da stand Blau, als Farbe des Himmels, für Reinheit und Ruhe und wurde deshalb oft mit Jesus’ Mutter Maria und allgemein mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht. Und Rot, als Signalfarbe für Kampf und Krieg, galt als besonders männlich.

In Lucia Bihlers Inszenierung werden die heutigen vermeintlich weiblichen Farben aufgenommen. Es gibt fünf weibliche Figuren, welches Geschlecht die Schauspielenden haben, spielt dabei keine Rolle. Alle sind in das Kleid der Marylin Monroe gegossen, tragen rosa und lila Kleider, pastellige Dauerwellen, rot geschminkte Lippen, endloslange Wimpern und haben bleiche Haut. 

Sie sehen sehr schön aus, fast makellos. Von Anfang an wirken sie wie Puppen oder Spieluhren, die erst mal aufgezogen werden müssen, ehe sie sich bewegen können. Und dann bewegen sie sich im gleichen Takt: tick tack. Prinzessin Hamlet tickt in vielen Szenen ganz anders, als es von ihr verlangt wird. Ihr fällt es schwer, sich anzupassen und sich in ihre Rolle als Prinzessin zu fügen. Aber ist man, weil man gegen den Takt der Gesellschaft singt/tanzt/denkt/lebt, direkt taktlos?

Anpassen statt anecken

Gerade in Zeiten von Social Media, Abonnenten und Likes kommen einem die wunderschönen Frauenfiguren auf der Bühne gar nicht so fremd vor. Instagram-Profile wie die von Bibis Beauty Palace, Kim Kardashian oder Stefanie Giesinger wirken ähnlich perfekt. Neben schönen Kleidern, langen Wimpern und dem Kylie Jenner Lipstick helfen auch Fotobearbeitung und Filter nach, die Influencer besonders schön aussehen zu lassen. 

Da ertönt doch unterbewusst wieder ein Ohrwurm, der durch Medien und Werbung, aber eben auch auf Plattformen wie Instagram verbreitet wird: Frauen müssen schön sein, schön sein, schön sein! Und weil sie schön und lieblich sind, riechen sie nie nach Schweiß und sie furzen, rülpsen, schmatzen auf gar keinen Fall! Das Bühnenbild von „Prinzessin Hamlet“ (Josa Marx) erinnert an die meist rosarote Welt auf Instagram: ganz in Lila, Rosa und Hellblau gehalten. Es gibt keine Ecken und Kanten, nur weiche Rundungen. So sollen auch die Frauen sein, so soll Prinzessin Hamlet sein, in welchem der fünf Körper sie im Laufe des Stücks auch auftaucht – sie darf nicht anecken, sie muss sich der künstlichen Welt, in der sie lebt, anpassen. 

Müssen wir das auch? Müssen wir uns in die künstliche Social Media-Welt einfügen und „perfekt“ sein, um möglichst viele Likes zu bekommen und gemocht zu werden? 

Perfektion ist kein finaler Zustand

Tatsächlich gibt es viele Profile, die unter anderem #fürmehrrealitätaufinstagram und #bodypositivity stehen. Frauen, die sich ungeschminkt zeigen, in unvorteilhaften Posen, denen es wichtig ist, authentisch zu wirken und klar zu machen, dass sie eben nicht perfekt sind. Und dass gerade das der Punkt sei, der ihre Schönheit ausmache. Denn Perfektion ist doch ein finaler Zustand und deshalb für uns Menschen, als sich ständig (weiter-)entwickelnde, lebendige Wesen, gar nicht zu erreichen. Entsprechend sind die Figuren in „Prinzessin Hamlet“ oft mechanisch und unnatürlich skizziert.

Der männliche Hamlet versucht den vermeintlichen Mord an seinem Vater zu rächen und tötet deshalb König Claudius, während Prinzessin Hamlet nur ein Ziel hat: selbst spektakulär zu sterben, um in die Geschichte einzugehen. Ihrer Ansicht nach ist ihr das als Frau nur auf diese Weise möglich.  

Hauptsache lächeln

Das hier von E. L. Karhu dargestellte Bild ist überspitzt: Frauen müssen an sich selbst arbeiten und können sich auf gar keinen Fall durch ihr Handeln einen Namen machen. Tatsächlich wird Prinzessin Hamlet in dieser Annahme bestätigt. Statt „spektakulär“ zu sterben, springt sie schlussendlich von einer Brücke und stirbt, ohne dass es jemand merkt. Sie wird von ihrer Hofdame ersetzt, die mehr schlecht als recht in Hamlets Kleid und Perücke passt. Das Volk interessiert das kaum. Ihm kommt es weniger auf Charakter oder Taten der Prinzessin an, als vielmehr nur auf ihre Anwesenheit. Hauptsache, die Prinzessin winkt und lächelt freundlich. 

Wir kennen das, wieder ein Ohrwurm: „Prettywoman walking down the street, prettywoman give your smile to me”. Die Frau wird auf ihre repräsentative Aufgabe, auf ihr Aussehen reduziert. Und dieses Bild ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt, wie es zunächst scheint. Schauen wir zum Beispiel auf die Repräsentantin unseres Landes. Kanzlerin Angela Merkel trägt stets ihre bekannte Hosenanzug-Kombination. So kommt sie einem üblichen Phänomen zuvor, dass nach wichtigen politischen Verhandlungen und Treffen lediglich über ihre Kleiderwahl und ihr Aussehen, nicht aber über das eigentliche Geschehen, ihre Worte und ihr Handeln berichtet wird.

Nichts gegen fröhlich vor sich hin summende Menschen und Ohrwürmer. Aber bevor wir auf die Stimme der Masse hören und sie nachplappern, hinterfragen wir doch besser kritisch das Radio in unserem Kopf. Vielleicht stellen wir es sogar ein für alle Mal ganz aus.