Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Wolfram,
wie Sie alle hier ja wissen, sieht es mit der Gegenwartsdramatik schlecht aus.
Klar ist das jetzt auch ein polemischer Satz, solche Sätze eignen sich ja sehr gut, um so eine Rede anzufangen – das darf aber auf keinen Fall darüber hinwegtäuschen, dass ich den Satz auch so meine.
Wenn ich mit Leuten in meinem Alter spreche und sie frage, welche Form im Theater es ist, die von ihnen am ehesten als gegenwartsabbildend empfunden wird (das frage ich tatsächlich manchmal), dann antwortet niemand, dass das die Gegenwartsdramatik sei.
Unsinn, das stimmt natürlich so nicht: Es gibt doch immer wieder jemanden, der antwortet, dass er noch immer die Dramatik für die gegenwärtigste Theaterform hält.
Aber richtig ist auch: alle anderen stehen dann drumherum und schütteln die Köpfe oder rümpfen ihre Nasen oder verdrehen die Augen oder wackeln mit den Ohren.
Und meist stellt sich auch heraus, dass die entsprechende Person den Begriff „gegenwartsabbildend“ anders versteht, als ich ihn gemeint habe. Dass sie ihn eher begreift in Hinblick auf die Aktualität von Themen, die in den Stücken auf der rein inhaltlichen Ebene vorkommen
oder
auf das Immernochirgendwievorhandensein von solchen Strukturen wie „Familie“ in unserer Gegenwart, einzelner Strukturen also, die von der herkömmlichen Dramatik vielleicht noch am ehesten abgebildet werden können. Es wird also ein partieller Gegenwartsbezug mit der Abbildung von Gegenwart insgesamt verwechselt.
Die Abbildung der Gegenwart, die ich aber meine, ist eine Formwerdung der uns umgebenden Wirklichkeit: Eine Form, die inhaltlich immer noch auf ganz und gar unterschiedliche Weise spezifisch werden kann, in der also alles mögliche verhandelt werden kann, unsere Verwurschtelungen auf Facebook, der Dreißigjährige Krieg als Historie, die Familie, die Drohnen am Himmel oder einfach der Wind, der hinterm Haus durch den Birnbaum oder auch nur durch die Wäscheleinen geht. Eine Form, die selbst zunächst ihre eigentliche Aussage über die Gegenwart ist, aufgrund ihrer sprachlichen Struktur, also ihrer eigenen textlichen Wirklichkeit, eine Form also, die deshalb auch immer wieder neu erfunden werden muss, nur deshalb, weil die Gegenwart sich ja verändert und unser jeweiliges Verhältnis dazu ja auch.
Ich gehe ja erst seit kurzem in der Höhle des Theaters umher. Aber seitdem ich es tue und dadurch also immer wieder andere Theaterautorinnen und -autoren treffe, stelle ich doch bei einigen eine Beleidigung in ihren Blicken und Texten fest, etwas, dass sich meist gar nicht direkt äußert in irgendeiner immerhin erlösenden Larmoyanz, etwas, dass aber alle Handlungen und jedes Wort zu grundieren scheint. Immer wieder treffe ich diese beleidigten Theaterautoren, im Bus, im Supermarkt, in Berlin, auf den Landesgartenschauen, auf Instagram, auf den Fluren des Arbeitsamtes, auf den verschneiten Spitzen der Berge, in den gemischten Saunen und in den Schrottpressen, auf dem Grund des Mariannengrabens und was weiß ich noch wo.
Ihre Beleidigung rührt aus dem Bedeutungsverlust der Dramatik, ein Bedeutungsverlust, der in Hans-Thies Lehmanns Buch über das postdramatische Theater noch immer am besten beschrieben ist.
Ein Bedeutungsverlust, der von vielen Autorinnen und Autoren aber seltsamerweise nicht als Folge eines Mangels der eigenen angewendeten Form gegenüber der uns umgebenden Welt gedeutet wird, sondern letztlich noch immer nur als eine Bösartigkeit seitens des Theaters und des Diskurses ihnen gegenüber.
Die konventionelle dramatische Erzählstruktur ist unbrauchbar geworden, denn das Drama wollte immer zuspitzen, auf einen Punkt zusammenführen, Ursprünge finden. Ich verbiete mir hier zu versuchen, Ihnen nun zu sagen, wie unsere Gegenwart tatsächlich sei, aber ich habe jedenfalls das Gefühl, dass sie sich eben nicht mehr zuspitzen lässt auf einen Punkt hin, dass die Stränge in ihr nicht mehr zusammen führen, sondern eben auseinander, in die Weite und die Verästelung.
Die konventionelle dramatische Erzählstruktur ist deshalb zur Gegenwartsabbildung äußerst fraglich oder wahrscheinlich sogar völlig unbrauchbar geworden, die epische Form des Romans, das weitläufige, zirkulierende, ungerichtete, zerbrochene, vernetzte, immer auch wieder in Sackgassen hineinlaufende Erzählen scheint mir viel näher an den Dingen zu sein. Das ist sicherlich auch ein Grund, weshalb so viele Romane in unserer Zeit auf die Bühne kommen: weil sie diese Weitläufigkeit viel eher leisten als die konventionelle Dramatik. Und zugleich ist es ein großes Missverständnis, denn die erzählenden Sätze der Romane huschen über die Bühne davon, wenn sie nicht von den Schauspielenden auf den Bühnenboden gestampft werden mit allen Mitteln des Körpertheaters, denn der Erzähler der Prosa ist nun mal kein dramatischer Sprecher, das Verhältnis zum Körper ist in diesem Erzählen viel flüchtiger als im dramatischen Sprechen.
Ich stelle fest, dass viele Theaterautorinnen und -autoren, denen ich begegne, resignativ auf das doch immer irgendwie gefühlte Unbrauchbarwerden der konventionellen dramatischen Erzählstruktur reagieren. Denn natürlich erscheint diese Problematik zunächst unlösbar, die Formerneuerung scheint nicht mehr aus einem laufenden Prozess und der stetigen Weiterentwicklung kommen zu können, sondern nur aus einem Paradigmenwechsel, der vor einigen Jahrzehnten begonnen haben dürfte, dessen zukünftige Dramengestalt aber immer noch ganz und gar verborgen ist, einer Maus ähnlich, die im nächtlichen Garten irgendwo im Gras raschelt, aber wahrscheinlich ist es eben gar keine Maus.
Diese Überforderung führt bei vielen Autorinnen und Autoren zu einer Abwendung vom Diskurs und seinen Forderungen, ja, überhaupt zu einer Abwendung von der Form, zur Verkleinerung der zu erzählenden Problematiken, und schlimmstenfalls zu so leer vor sich hindrehenden Aussagen wie: Man wolle ja gar nicht unbedingt an der Wirklichkeitsabbildung teilnehmen, sondern eben einfach nur eine gute Geschichte erzählen.
Wie Sie wissen, wurde in den letzten Jahren besonders dem Performance-Theater eine erhöhte Gegenwärtigkeit zugeschrieben, oft wurde es auch gegen die Dramatik in Stellung gebracht. Die Nullerjahre waren geprägt von dieser Theaterform, und zwar zu Recht.
Und doch habe ich häufig, wenn ich inzwischen performativen Theaterformen begegne, auch ein Unbehagen, ja, das Gefühl eines Mangels.
Denn das Performen meint ja auch und besonders die Möglichkeit, die Kluft zwischen eigenem Körper und dem Sprechen auf der Bühne zu verringern oder gar zu überwinden: das Performen (wenn es überhaupt auf Sprache zurückgreift) sucht eine Sprache, die im Körper des Performenden entsteht. Gelingt es auf gute Weise, so erscheint dieses Verhältnis auf der Bühne immer auch als ein problematisches, als ein Flimmern.
Leider ist es aber oft auch nur eine unbewegliche Behauptung, eine vorgebliche „Naturalisierung“ des Sprechens. Dadurch ist das performative Theater häufig, so scheint es mir, zwar eine Konsequenz und Weiterentwicklung des bürgerlich-illusionistischen Verkörperungstheaters in unserer Zeit, zugleich aber auch ihr Exzess.
Dieser Naturalisierung des Sprechens gilt es aber gerade, das ist meine Überzeugung, eine Sprache entgegenzusetzen, die künstlich ist, und die also hörbarerweise nie ganz eins werden kann mit dem Körper des Sprechenden. Und künstliche Sprache, das ist immer literarische Sprache.
Das Glück, das ich empfand, als ich im Sommer 2012 zum ersten Mal Wolfram Hölls Stück Und dann las, ja, das Glück, das ich schon beim Lesen der ersten Seite empfand, hatte auch viel damit zu tun, eben eine solche Sprache dort vorzufinden.
Die Sprache in Und dann meint sich auch immer selbst, das macht sie so literarisch, sie entsteht auch und besonders aus sich heraus, aus ihrer Materialität, aus ihren Wiederholungen, aus ihrem Rhythmus und ihrem Klang.
Die Sprache von Und dann kann durch kein Sprechen ganz naturalisiert werden. Sie bleibt immer auch vor dem Körper des Schauspielers, sie bleibt künstlich und für sich greifbar, als wäre sie eine Maske. Aber ganz so, wie die Maske eine komplexe und enge Beziehung zum Körper unterhält, so meint auch Wolfram Hölls Sprache in diesem Stück ganz besonders den Körper der Darstellenden, und zwar aufgrund der ihr eigenen Musikalität.
Von der Kritik wurde des öfteren darauf hingewiesen, dass Und dann sehr viel von einem großen Gedicht habe, also sehr lyrisch sei. Dass ist vor allem insofern richtig, als dass die Sprache sehr nahe am Gesang zu sein scheint, eine Eigenschaft, die von Claudia Bauer in ihrer Inszenierung ja sehr genau begriffen wurde, denn dort schlingert jegliches Äußern von Sprache immer durch das Grenzgebiet von Sprechen und Singen.
Das Verhältnis von Sprache und Körper in Und dann kann, denke ich, also am besten über das Singen erklärt werden:
Das Singen ist einerseits künstlicher als das Sprechen, es kann schlechter naturalisiert und also nicht gänzlich einverleibt werden, und zugleich meint es den Körper aber auf eine vollständigere Weise, ja, der Gesang meint den Körper der singenden Person stärker und tiefer, als das Sprechen den Körper der sprechenden Person meint.
Deshalb ist die Sprache Wolfram Hölls so theatral, sie bleibt vor den Körpern, aber sie meint die Körper so sehr in ihrer Anwesenheit, und also ganz besonders das Theater.
In der Kritik wurde über die letzten zwei Jahre hinweg immer wieder angezweifelt, ob Und dann wirklich ein Theaterstück sei, ob es überhaupt auf eine Bühne gehöre, oder nicht eher ins Radio oder in einen Gedichtband.
Mich hat das immer irgendwie wütend gemacht, solche Aussagen zu lesen,
1. weil ich grundsätzlich etwas cholerisch veranlagt bin
und
2. weil ich schon im ersten Moment des Lesens von Und dann das Gefühl hatte, dass dieser Text für die Bühne bestimmt ist, ganz unbedingt und viel mehr als die allermeisten anderen gegenwärtigen Theatertexte.
Die Bühnentauglichkeit von Und dann wurde von der Kritik auch dadurch angezweifelt, dass gesagt wurde, dass das Stück keine konventionelle dramatische Erzählung mehr biete, bzw. nur noch Spuren, Fragmente davon. Ja, es wurde gesagt, dass der Text deshalb nicht dramatisch sei.
Aber dieser Schluss ist ganz falsch. Zwar ist in Wolfram Hölls Und dann die dramatische Struktur kaum noch auf der Handlungsebene vorzufinden – der Trick ist allerdings, dass Wolfram Höll die dramatischen Strukturen auf eine andere Ebene verschiebt, und zwar auf die Sprachebene. Die Sprache baut ununterbrochen über ihre Bewegungen, ihre Wiederholungen winzige Spannungsladungen auf. Dieses Aufbauen, dieses Halten und das Lösen in der Sprache ist die eigentliche dramatische Struktur. Mit diesem großartigen Trick muss Wolfram Höll keine große geschlossene dramatische Struktur mehr gewährleisten, ohne aber zugleich auf das Dramatische verzichten zu müssen. Ja, Und dann ist dadurch ein deutlich dramatischerer Text als die konventionelleren Theatertexte heutzutage. Denn über seine Mikrostrukturen ist die Dramatik immer ganz augenblicklich gemeint, ist immer das, was gerade da ist – die Sprache in ihrer Beschaffenheit – dramatisch, ja, ist der Text in jedem Augenblick viel mehr mit dramatischer Energie geladen, als es eine ausgebreitete dramatische Handlung leisten könnte. Wolfram Hölls Sprachdramatik ist präsentisch gemeint, ist im Augenblick und vor Ort, und also ganz besonders auf einer Theaterbühne.
Und bei allen Unterschieden: In der Verlagerung der Dramatik von der Handlungs- auf die Sprachebene ist Und dann den sprach-vor-sich-hinspielenden Texten Elfriede Jelineks nicht unähnlich.
Wo aber Jelineks Textflächen in ihrem Sprachwirbel kleinste Referenzteilchen herumsausen lassen, schafft Wolfram Höll dennoch eine Form von Erzählung.
Denn das sprechende Kind in Und dann setzt noch immer Ereignisse hintereinander, oder sagen wir besser: Bilder von Ereignissen.
Aber nicht diese hintereinandergesetzten Ereignisse ergeben die Erzählung. Die eigentliche Handlung ist das Hintereinandersetzen selbst, denn ja, die eigentliche Handlung des Stücks ist das Erinnern – das Erinnern als Erschaffen einer Geschichte.
Alles, was in dem Stück vorkommt, ist nicht einfach so da, sondern es wird durch das Erinnern des Kindes erst hergestellt. Alles kann erscheinen, und es erscheint auch, aber es bleibt zugleich immer auch fraglich.
Besonders das immer wiederkehrende, titelgebende „Und dann“ weist auf diesen Prozess der Herstellung hin: Es verknüpft die Dinge, aber es ist spürbar, dass diese Verknüpfungen nicht einfach vorhanden sind, sondern durch die Sprache, die ja das Erinnern ist, immer gerade hergestellt werden.
Das Erzählen in Wolfram Hölls Text ist also, im Gegensatz zum Erzählen in konventionelleren dramatischen Texten, kein Umherwandern mehr in einer intakten Wirklichkeit, sondern es ist das Herstellen von Orientierung und Ordnung in einer im Text spürbar zerbrochenen Wirklichkeit.
Sprechend, im Text und auf der Bühne, sucht das Kind Zeugen für das Erinnerte, den Leser und Zuschauer.
Die Welt, die in diesem Stück spürbar wird, durch die das stetige „Und dann“ seinen Pfad tritt, ist weit und zerfallen, sie ist nicht mehr kausal-linear, sondern zirkulierend und verstrickt. Das Wiederkehren der Sprachmuster, der einzelnen Motive auf eine manchmal fast refrainartige Weise, manchmal nur als flirrende klangliche Assoziation – dieses Wiederkehren schafft einen Text, in dem das Erzählte nicht einfach kausal aus dem bereits Erzählten hervorgeht, sondern in dem die Dinge einerseits vereinzelt stehen, und doch miteinander vernetzt sind auf vielfältigste Weise.
Es kann in so einer Rede nicht gelingen, Wolfram Hölls großartigem Stück insgesamt gerecht zu werden. Es müsste noch einiges gesagt werden, ja es müsste noch etwas gesagt werden
- zu dem fast schon magischen Gebrauch mancher Wörter
- zur Schreibmaschine als Schreibinstrument und dem damit verbundenen Wunsch, jedes Wort und jeden Buchstaben unbedingt so zu meinen im Augenblick des Schreibens selbst
- und dazu, wie die Form dieses Textes vom Theater die Auseinandersetzung verlangt, und die Auseinandersetzung ist doch für das Theater so elementar
- und zur Sehnsucht, von der dieses Stück erfüllt ist, und was sie für unsere Gegenwart bedeutet.
Und diese Dinge sind hier nun wenigstens erwähnt, aber sie sollen auch ein Hinweis sein auf all das, was hier nicht vorkommen konnte.
Denn es ging mir hier vor allem darum, deutlich zu machen, warum Wolfram Hölls Text aus einer allgemeineren Perspektive so besonders, ja, so wichtig ist:
Und dann ist tatsächlich ein Drama nach dem Drama.
Ein Text, dessen Motivwelt eine ganz vergangene ist, der aber mehr als fast alle anderen heutigen Theatertexte einen Zugriff auf unsere Gegenwart erhält.
Denn es sind nicht die Motive, nicht die Themen, und schon gar nicht die Aussagen – nein, es ist die gesamte Verfasstheit eines Textes, die den Bezug zu unserer Gegenwart bildet.
Der gesamte Entwurf von Wolfram Hölls Und dann reagiert radikal auf die Anforderungen einer veränderten Wirklichkeit. Der Text zieht sich darin aber nicht zurück und verkleinert sich in seinen dramatischen Möglichkeiten, sondern er nimmt sich dieser unglaublich schwierigen Aufgabe an, er leistet ein dramatisches Erzählen, aber eines, das sich von den Erzählungen der konventionellen Dramatik strukturell unterscheidet: Ein Erzählen, das es für mein Empfinden schafft, unserer Gegenwart gerecht zu werden. Und das ist für mich mehr als ein kleines Wunder!
Und es macht mir eine so große Hoffnung – für das Theater, für die literarische Sprache im Theater, auf die nicht verzichtet werden kann, und für eine neue Dramatik!
Und ich möchte Dir hier, lieber Wolfram, natürlich auch zu diesem Dramatikerpreis gratulieren, aber vor allem möchte ich Dir zu diesem wunderbaren Stück gratulieren, für das Du diesen Preis völlig zu Recht erhältst!
Mülheim, 22.6.2014