Deutsche Doppelmoral
Queere Heranwachsende auf dem platten Land leben gefährlich. Für homophobe Hooligans sind sie Freiwild, für Eltern mit Familienideal aus den fügsamen Fifties ein Grund zum korrektiven Eingreifen. Im plumpen Fall kommt hier des Vaters Faust zum Einsatz. Die raffiniertere Methode: mütterliche Spionage. Tagebuch entschlüsseln, Telefon überwachen, Freunde vergrätzen. Alles in allem ergibt das eine Jugend in Deutschland, die schwer vernarbt und lange nachschmerzt. Eine Jugend, wie sie der Autor und Regisseur Falk Richter in der Nordheide bei Hamburg recherchiert hat. Im eigenen Elternhaus.
Der 54-Jährige befragt sein Gedächtnis, interviewt seine Mutter, setzt sich erneut ans Sterbebett seines Vaters. Er ruckt den Vorhang beiseite, hinter dem die über Generationen eingeübte gutbürgerliche Doppelmoral alles Unschöne, Unsagbare, Unangepasste verborgen gehalten hat – eben alles, was nicht in die Eigenheimidylle passt. Die Großväter: verbiestert vom Krieg. Der Vater: verschlossen wie ein Aktenschrank. Mutter wie Großmutter: Überlebensheldinnen mit Neigung zur Lebenslüge. Und der Sohn: dünnhäutig, schonungslos, skeptisch. Letzteres zum Glück auch gegenüber der eigenen Selbstgerechtigkeit.
Falk Richter will den emotionalen Verletzungen eines Jugendlichen in den frühen 80er-Jahren auf den Grund kommen. Dass er selbst dieser Jugendliche war, macht den Autor zum Zeitzeugen. Hier schreibt einer, der fühlt, wovon er spricht. Der wissen will, woher der Kontrollwahn kam, unter dem er als Kind gelitten hat, und weshalb in diesem hochemotionalen Generationengeflecht namens Familie eisern alles totgeschwiegen werden kann, was Emotionen betrifft.
Warum darf ein Vater seinen Sohn für dessen erste schwule Beziehung genauso grundlos züchtigen, wie es dahergelaufene Dorfschlägertypen tun werden? Warum erzählt der Vater nie von den Albtraumfetzen aus dem Schützengraben, die ihn lebenslang verfolgen? Wieso misslingt eine Aussöhnung?
Oder: Wie war das in den Sechzigern, als sich die Mutter minderjährig von einem wohlhabend verheirateten Unternehmenschef verführen ließ? Als dieser die Schwangere aus der Firma abschob, weil ihre Affäre seine Karriere gefährden würde? Der Alleingelassenen, Alleinerziehenden, wollte man das Baby heimlich abkaufen. Das Kind ist Falks Schwester.
Falk Richter macht sehr vieles goldrichtig. Als Autor bezeugt er deutsche Familiengeschichte, blendet zurück in die homophobe Aids-Hysterie der frühen Achtziger. Als Regisseur schiebt er zwischen sich und die Figur Falk eine echte Erzählinstanz: den Solodarsteller Dimitrij Schaad, dessen Präsenz den autofiktionalen Text meisterhaft veredelt. Und dann sind da diese Filminterviews. Mit deren Hilfe gräbt das Stück wesentlich tiefer, als sich Falk Richter je erinnern könnte: „Meine Mutter ist in Westpreußen aufgewachsen mit ihrer Mutter Waltraud und ihren / Geschwistern – ohne Vater. Das war die schönste Zeit ihres Lebens, sagt sie. Als der Vater / NOCH NICHT da war.“
Wer sich je gefragt hat, warum es in westdeutschen Nachkriegsfamilien so angestrengt normal zuging, warum so schweigsam, so gefühlskalt, dem kann kaum Aufregenderes, kaum Aufrichtigeres begegnen als „The Silence“ von Falk Richter.
Stephan Reuter