Dit is‘ Berlin
Ihr Sehnsuchtsruf geht ausnahmsweise nicht nach Moskau, sondern nach „Amerika!“. Die drei „Sistas!“, die Golda Barton eineinviertel Jahrhunderte sehr frei nach Tschechows „Drei Schwestern“ in die deutsche Hauptstadt verpflanzt hat, sind waschechte Berlinerinnen mit zupackendem Mundwerk und gediegen kulturbürgerlichem Hintergrund, kunst-, musik- und theaterinteressiert, bewohnen eine großzügige Berliner Altbauwohnung mit Parkett und Stuck, im Garten stehen Birken. Alle drei sind PoC, ihr Vater war US-GI, verheiratet mit einer Deutschen, von der er sich aber getrennt hat und nach New York zurückgekehrt ist. Allerdurchschnittlichste Westberliner Verhältnisse also.
Leider – auch dit is’ Berlin – sind die „Sistas“ etwas verpeilt und sorglos in Wohnungsangelegenheiten. Was ihnen nach einigen Mahnungen eine Eigenbedarfskündigung von Nachbarin Natty, ebenfalls PoC, einbringt, die zwar nicht so geschmackvoll gekleidet ist wie die drei Schwestern, aber über solideres Besitzstreben verfügt und sich auch gleich den gutaussehenden älteren Herrn als Hausfreund und mehr geangelt hat, der da überraschend vor der Tür gewartet hat: Papa Andrew nämlich, der zum Geburtstag seiner jüngsten Tochter aus New York herübergeflogen ist. Außerdem ist da noch die koreanische Konzertpianistin, mit der Olivia, die älteste Schwester, ihre eindrucksvollen Proben deutsch-romantischen Liedguts einstudiert. Und schon ist man mittendrin in den Gender-, Race- und Identity- Troubles, die ein Berliner Mietshaus Mitte der 1990er-Jahre bewegen.
Wo man schnell begreift, dass auch die drei feministisch und identitätspolitisch hochgebildeten deutschen PoC vor eigenen Alltagsrassismen und anderen Fehltritten nicht sicher sind. Denn Golda Barton (Text) und das freie Kollektiv Glossy Pain aus Isabelle Redfern, Katharina Stoll (beide Regie) und assoziierten Künstlerinnen veranstalten ein munter-böses Fettnäpfchen- Hüpfen. Oder was eben so rausrutscht, wenn es sich drei vertraute Schwestern auf ihrem Wohnzimmersofa bequem machen. Jede*r hat hier seine blinden Flecken und pflegt unterschiedlich hohe Anteile von Doppelmoral.
So hat die anpassungswillige Olivia bei all ihrer deutschen Musikbegeisterung offenbar nie bemerkt, dass ihre koreanischstämmige Begleitpianistin fließend Deutsch spricht. Masha wiederum lässt sich trotz feministischer Grundüberzeugung von ihrem schwäbischen Hausfreund finanzieren, während das plötzlich erwachte Interesse von Ivy, der jüngsten Tochter, an ihrem Erzeuger vermutlich sehr eng mit ihrem Wunsch zusammenhängt, in New York auf eine Schauspielschule zu gehen. Hinter allen zieht Nachbarin Natty souverän die Fäden, die sich nicht nur für eine große Wohnung interessiert, sondern sich am Ende trotz ihres soliden Materialismus dann leider doch in Andrew verliebt hat.
Pia Amofa-Antwi (Ivy), Amanda Babaei Vieira (Natty), Diana Marie Müller (Masha), Isabelle Redfern (Olivia), MING und Aloysius Itoka (Andrew) brauchen nicht viel mehr als ein Sofa, ein Klavier und ein paar Videofotos von deutsch-amerikanischen Freundschaftsfesten an der Wand, um die vielen Stolpersteine zwischen Wissen, Tun und Fühlen aufzupolieren: ein böser Pointenparcours gegen moralische Selbstzuschreibungen und kollektive Identitätszumutungen jeder Sorte.
Franz Wille