Die richtigen Fragen
Ein Künstler – Orlando – hockt mit einem Wischtuch auf dem Boden und putzt: Er spielt im Rahmen eines Theaterprojekts eine Reinigungsfrau. Seine hinzutretende Kollegin ist entsetzt: „Du kannst nicht so tun, als wärst du Reinigungspersonal“, ruft sie und ergänzt: „Als könntest du nachvollziehen, was es heißt, anders zu sein und woanders herzukommen!“ Ab jetzt, erklärt die Kollegin Orlando, dürfe er nur noch über sich selbst erzählen – jedenfalls „nie von anderen unter dir“. Es ist die zentrale Debatte des gegenwärtigen Kunst- und Kulturbetriebs, die hier verhandelt wird: Wer darf über – und für – wen sprechen? Wo verlaufen Grenzen des Darstellbaren? An welchem Punkt beginnen, einerseits, jene ignoranten Formen der kulturellen Aneignung, die es sich seit Ewigkeiten in ihren blinden Flecken gemütlich machen? Und wer sagt wiederum andererseits – um noch einmal mit dem Lappen schwingenden Orlando zu sprechen – dass es die Putzfrau nicht vielleicht sogar begrüßen würde, wenn Künstler sich für sie mehr interessierten als für sich selbst und ihre eigenen Identitätsprobleme? Entlarvt nicht, letzten Endes, auch die Formulierung von „den anderen unter dir“, die Orlandos Kollegin hier nach bestem Wissen und Gewissen ausspricht, ein Denken, das blind ist für das eigene Kategorisierungssystem? Klug und komplex bringt der Dramatiker Thomas Melle all diese Fragen in seinem Stück Ode, einem Auftragswerk fürs Deutsche Theater Berlin, auf den Punkt. Er dekliniert das Thema auf einem Niveau durch, das nicht bei den kulturbetrieblichen Debatten stehenbleibt, sondern auch höchste soziologische und gesellschaftspolitische Diskursfitness verrät. Zu den wichtigsten Stichwortgebern des Abends gehört Bertolt Brechts Text Fatzer: Wie in jenem Lehrstück-Fragment über das Verhältnis zwischen revolutionärer Aktion, Individuum und Kollektiv, das natürlich auch grundlegend über die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft nachdenkt, kommen alle widerstreitenden Positionen zu Wort, werden gedankenscharf auf die Spitze getrieben und dialektisch durchgespielt. Und während sich also Künstler:innen wie Orlando und seine Kollegin darüber entzweien, ob das Denken in Identitäten nun ein Fort- oder ein Rückschritt sei – während Orlando konkret für „die Ambivalenzen“ in der Kunst eintritt und seine Spielpartnerin vor allem „Zuschreibungen“ sieht – hat sich draußen die „Wehr“ konstituiert, eine (kunst-)diktatorische Truppe mit Deutschlandfahne und schwarzen Anzügen, die in AfD-Rhetorik nach Brauchtum und Tradition ruft. Ebenso wie Thomas Melles Stück gibt auch Lilja Rupprechts Uraufführung in einem weißen Bühnenrund, das nach und nach vom DT-Ensemble sowie Mitwirkenden des inklusiven Berliner Theaters RambaZamba gemeinsam künstlerisch be- und überschrieben wird, keine simplen Ratschläge und schon gar keine schlichten Antworten. Stattdessen stellen Text und Inszenierung auf kluge Weise die richtigen Fragen.
Christine Wahl