Die Nora-Show
Der Trend zur kritischen Befragung kanonischer Texte schlägt sich auch in der zeitgenössischen Dramatik nieder. Die Überschreibung von klassischen Dramen nimmt in den Spielplänen immer mehr Platz ein. Bei den Mülheimer Theatertagen sind in diesem Jahr zwei Arbeiten aus diesem Genre am Start: „forecast:ödipus“ von Thomas Köck und „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ von Sivan Ben Yishai. Ben Yishais Ibsen-Paraphrase ist ein schillerndes Beispiel dafür, wie produktiv es sein kann, alte Texte zuerst gründlich zu analysieren, dann lustvoll auseinanderzunehmen und schließlich so neu zusammenzusetzen, dass man sie danach mit anderen Augen sieht. Die „Nora“ ist gewitztes Metadrama, klassismuskritischer Klassikerkommentar und kluge Kanonbefragung zugleich.
Die emanzipatorische Handlung von Ibsens Original steht hier nicht im Zentrum (was nicht heißen soll, dass sie keine Rolle spielt), Ben Yishai interessiert sich mindestens so sehr für theaterimmanente Unterdrückungsmechanismen und rückt die Nebenfiguren in den Vordergrund. Es treten Dienstmädchen ins Rampenlicht, die im Personenverzeichnis nicht einmal einen Namen haben, Köche, die man im Original niemals zu Gesicht bekommt („wohnen hinter der Küche“), und ein Paketbote, dessen ganzer Text aus dem Satz „50 Öre“ besteht.
Sivan Ben Yishai wurde 2022 für „Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)“ mit dem Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnet, 2023 war sie mit „Bühnenbeschimpfung“ für die Mülheimer Theatertage nominiert. An letzteres schließt das neue Stück an, auch hier wird das Theater mitgedacht, ist der Theaterbetrieb eine eigene Spielebene. Witzigerweise ist „Nora“ nämlich eine erfolgreiche Show, mit der die Hauptdarstellerin und ihr Mann seit 140 Jahren um die Welt touren (die von Marie Bues am Schauspiel Hannover inszenierte Uraufführung spielt passenderweise auf einer Showtreppe). Damit für die beiden Protagonisten mehr übrigbleibt, feuern sie nach und nach den Rest des Ensembles. Sie könne es sich nicht leisten, einen Schauspieler zu bezahlen, der nur zwei Silben Text hat, lässt Nora den Darsteller des Paketboten wissen. „50 Öre sind vier Silben“, erwidert dieser: „Fünf-zig Ö-re!“
Zu den in der Ibsen-Rezeption vernachlässigten Figuren, denen Ben Yishai Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, gehören auch das Kindermädchen Anne-Marie, die ihr eigenes Kind weggeben musste, um sich wie eine Mutter um Nora kümmern zu können, und Noras Freundin Christine, die nach dem Tod ihres Mannes vor den Trümmern ihrer Existenz steht. Am Ende steht das Bild des versinkenden Herrenhauses, das bei Ibsen noch „Puppenheim“ hieß; jetzt steht es für alle möglichen Machtstrukturen – in der Familie, im Theater – und verrottet langsam zu Humus.
Sivan Ben Yishai geht das Thema Überschreibung gründlich an. Sie schreibt mit mehreren Durchschlagpapieren, die alle wieder aufeinander abfärben. Und sie vergisst nicht zu erwähnen, dass im Original nicht nur manche Bedienstete namenlos bleibt; auch von Titelheldin Nora kennen wir nur den Vornamen: „Kein Mädchenname / Keine besonderen Interessen / Kein Beruf.“
Wolfgang Kralicek