Aufs Innigste gespalten
Endlich. Die türkische Republik hat sich mit Nachbarn und Minderheiten ausgesöhnt. Es gibt keinen Islamismus mehr, keine PKK, keine Erdbeben. Deutsche googeln die Dokumentenliste, die sie zum Verbleib auf der Globaldrehscheibe am Bosporus berechtigt. Ach ja, und fliegende Autos haben sich im Jahr 2063 auch durchgesetzt. Diese Heilewelt-Vision liegt Akın Emanuel Şipal sehr fern. Er hat es in seinem für den Mülheimer Dramatikpreis nominierten Stück vielmehr mit seinem innig gespaltenen Verhältnis zu, wie der Titel sagt, „Mutter Vater Land“. Zu den Großeltern. Und zu einem komplizierten Jahrhundert der zunehmenden deutschtürkischen Verflechtung. Jene Utopie für 2063 fantasiert Şipals Bühnenfigur namens Alter Ego eigentlich im Epilog. Die Bremer Uraufführung verlegt die Szene an den Anfang.
Die Sängerin Nihan Devecioglu kauert über den Dingen; von dort, aus prophetischer Höhe, beschwört ihre betörende, mithin ironisch kolorierte Stimme das, was noch nicht ist: konfliktfreie Koexistenz der Völker. Das schlichte Wegekreuz im Bremer Bühnenbild deutet an, um wie viel prosaischer sich die vier Generationen in dieser türkisch-deutsch-schlesischen Familienstory begegnen. Das Publikum dürfte dabei ähnliche Schmerzreize erleben wie Şipals Alter Ego: „Erinnerungen schwellen an wie Mückenstiche.“ Erinnerungen etwa an den Uropa, dessen Bajonett sich im Jahr 1914 in den Bauch eines Feindes bohrt. Oder an die schlesischstämmige Oma aus Wanne- Eickel. Im Jahr 1957 warnt das Generalkonsulat der BRD in Istanbul das „sehr geehrte Fräulein“ hochachtungsvoll vor der „Ehe mit einem Mohammedaner“. Im Jahr 1973 reist die fünfjährige Mutter ins gelobte Deutschland und atmet den Kohlestaub von Gelsenkirchen. Der Großvater kultiviert den Eigendünkel des Großintellektuellen, der Vater verkümmert in dessen Schatten. So kommt es, dass im Jahr 2018 das Alter Ego mit den kulturellen Identitäten seiner Familie hadert.
So kommt es auch, dass ihn das vorgelebte Mittelmaß der sogenannten Biodeutschen nicht gerade magisch anzieht – am wenigsten aufgrund unausrottbarer Vorurteile, wie marginalisierte Deutschtürken zu sein und zu wirken hätten. Akın Emanuel Şipal, 1991 in Essen geboren, hat in Hamburg Film studiert, aber früh begonnen, neben Drehbüchern auch fürs Theater zu schreiben. Als Hausautor war er am Nationaltheater Mannheim und danach am Theater Bremen engagiert, wo „Mutter Vater Land“ 2019 entstanden ist. Den intellektuellen (Über-)Großvater gab es übrigens wirklich: Kâmuran Şipal (1926–2019) übertrug zahlreiche moderne Klassiker der deutschsprachigen Literatur ins Türkische, verfasste selbst preisgekrönte Romane. „Mutter Vater Land“ ist aber weder Chronik noch Sozialdrama. Auch keine Migrantensoap. Sondern ein kraftvolles, kurzszenisch verdichtetes Geflecht mit Drive und Witz, eine vielstimmige Spurensuche bis tief in die letzte westöstliche Stammbaumverästelung. Şipal erinnert uns sehr dringlich an das Weltläufige, Kosmopolitische, Scharfsinnige einer Kultur, welche die Erdoğan-Clique hoffentlich überleben wird, wie man die meisten Parasiten überlebt.
Stephan Reuter