Von Kopf bis Unterleib
Erinnern Sie sich noch an Popeye, den muskulösen Comic-Matrosen des amerikanischen Zeichners Elzie Crisler Segar? In LIEBE/ Eine argumentative Übung ist er kein Spinat futternder Seemann, sondern ein ewiger Filmstudent, während Olivia, im Comic bloß dürre, kurios-nervige Nebenfigur, zur eigentlichen Heldin aufsteigt. Sie ist Künstlerin, erfolgreiche Schriftstellerin, Feministin: Was soll da schon schiefgehen? Sivan Ben Yishai beginnt ihr siebtes Theaterstück als heterosexuelle Bohèmepärchenkomödie, in der Olivia sich lange nicht eingestehen will, dass sie genervt ist von Popeyes selbstzufriedenen Künstlerfantasien, denen keine Taten folgen, und frustriert, weil er keinen ihrer Romane liest. Auch das Sexleben der beiden scheint irgendwie – einseitig. Und als man schon denkt, genauer will ich’s jetzt lieber nicht wissen, vertieft sich die Autorin auch noch in Olivias problematisches Verhältnis zu ihrem eigenen Körper. Einschließlich Masturbation, Angst vor Vaginalgerüchen und animalischer Tigerinnenfantasien. Wahrscheinlich hat noch kaum jemand für die Bühne so explizit über weibliches Begehren, ja über die Vulva selbst geschrieben wie die seit 2012 in Deutschland lebende Israelin. In einer Art Vorwort schildert eine Ich-Erzählerin, wie sie sich als Zwölfjährige während ihres ersten Orgasmus in der Badewanne die Vorderzähne ausschlägt und gibt damit die Tonlage vor: Es wird schmerzhaft, blutig, dreckig werden. Im Verlauf des Stückes arbeitet Ben Yishai sich buchstäblich vom Kopf in den Unterleib vor, will der tief verwurzelten Körperscham vieler durchaus feministisch denkender, selbstreflektierter Frauen auf die Spur kommen, genau wie der Schwierigkeit, wirklich gleichberechtigte Partnerschaften zu führen, so lange sie sich abhängig machen von einer männlichen Perspektive: „‹WENN ER HINSAH›/ – fühlte sie sich wie ein verwundeter Wal, auf den Rücken gedreht, in einer leeren Badewanne“. Dabei strapaziert sie die dramatische Form über alle Regeln der Kunst hinaus. Statt klassischer Figurenrede schreibt Ben Yishai Dialoge in der dritten Person, lässt ihre Figuren polyphon von Stimmen beschreiben, in einer sinnlichen, rhythmischen, drastischen Sprache, die die eng mit Ben Yishai zusammenarbeitende Lyrikerin Maren Kames kongenial aus dem Englischen übersetzt hat. LIEBE/ Eine argumentative Übung erobert Stück für Stück eine weibliche Perspektive auf den Körper, dringt in verbotene Zonen vor, stellt Klischees auf den Kopf, bis die Frau zur Jägerin wird: „Nachts bricht die Frau aus der winzigen Wohnung aus. Ganz alleine, mit Streifen auf dem Rücken, den Mund gegen den Wind geöffnet, Borsten am Kinn und Pelz auf dem Bauch, Löcher in den Venen und Crystal Meth im Blut; ihre Vulva: riesig, ihre Klitoris: erigiert, und jeden Mann, den sie sieht, fickt sie, jeden Mann, egal welchen“. In der Mannheimer Uraufführung von Jakob Weiss nimmt das fünfköpfige Ensemble vor einem Tunnel aus Leuchtstoffherzen die Herausforderung an, spricht den Text zunächst eher chorisch, später auch immer häufiger in eindrücklichen Soli. So subjektiv Sivan Ben Yishais und Maren Kames spiralförmiger Gang in die Tiefe auch erscheint: Er lädt ein, Geschlecht und Körper neu zu denken und zu fühlen.
Eva Behrendt