LAUDATIO auf Wolfram Höll von Patrick Savolainen


Lieber Wolfram

Sehr geehrte Damen und Herren

Liebe Anwesende

Mit Sprache beginnt dieses Stück.

Nicht mit Ohnmacht, nicht mit einem un-sprechbaren Ereignis, das der Sprache vorgelagert wäre und die Protagonisten am Sprechen hindert.

Die Sprache – deren allzuoft rhetorischer Singular darüber hinweg täuscht, wie vielgeädert und verschlungen ihre Wege sind –  ist das eröffnende Moment, in das sie sich sprechend hinein begibt, und sich dabei selbst entzieht.

Verszeile um Verszeile, Wort für Wort.

Wenngleich das Stück mit dem Wort «Bevor» beginnt («Bevor er / da war / bevor wir wussten / dass er da war / haben wir geträumt:»), ist dieser Rückgriff ein sprachlicher: Hölls Sprache erschafft, worauf sie zurückgreifen wird, gleich zu Beginn: «Bevor wir wussten, dass er da war.» Und in jener Vergangenheit war das Träumen kein malerisches Bild, sondern ein in zärtlichem Imperativ formulierter Wunsch: «Komm wir gehen nach Kanada.»

Diese durch Sprache sich eröffnende Bühne, von der die Sprache ihrerseits zu Anbeginn noch nichts weiss und auch nichts wissen darf, in die sie sich tastend hineinbegibt, will ich in den folgenden wenigen Minuten nachzeichnen.

In einer Zeit oder Umgebung, in der so viel geschrieben, gesprochen und dabei in genau jenen Worten so wenig gedacht wird, fällt dies auf. Dergestalt, dass niemand, die oder der über Hölls Stücke spricht, nicht auch und vor allem – sei es lobend, sei es ablehnend – die Sprache seiner Stücke anspricht.

Dabei werden leider eine Menge Ungenauigkeiten und falsche Beobachtungen geäussert, die weder einer würdigenden noch kritischen Auseinandersetzung mit dem Stück zuträglich sind.

«Kunstsprache», «fragmentarisch», wahlweise auch «Nicht-Lineares Erzählen» oder «Sprache der Ohnmacht, die um Worte ringt», heisst es in den zirkulierenden Meldungen.

Ein Kommentar lautete sinngemäss: Es sei problematisch, die tragische Geschichte um einen Kindestod in «Kunstsprache» zu erzählen. Weder als Kritiker dieser Kritik, noch als Anwalt, sondern als Leser des Textes muss ich sagen, dass diese Einschätzung mehr Irrtümer aufweist als Wörter.

Wir sollten nicht fragen, mit welcher Sprache wird was gesagt. Sondern: In welcher Sprache zeigt sich das Sprechen, wie spricht dieses (W/)wovon?

Der Begriff der Kunstsprache ist bei «Drei sind wir», war aber bereits bei «Und dann», problematisch, insofern er eine Reihe von Distinktionen herstellt, die so weder existieren, noch sinnvoll sind. Einerseits entsteht der Eindruck, es gäbe im Stück von der Sprache losgelöste Ereignisse: Hier die Trisomie, der Kindestod, die Eltern, Grosseltern, der Onkel und dort das Sprechen davon und darüber.

Dass wir nachträglich, wie ich hier, in diesem Moment, in einer anderen Sprache, noch einmal davon und darüber sprechen, zeugt nicht von dieser Trennung, sondern widerlegt sie doch ganz und gar.

Sehr wohl gibt es Momente, Ein-, Durch- und Überschüsse, die sie transzendieren, doch – wann und wie werden sie eingeleitet?

So ist es eben nicht ein der Sprache vorangestelltes Ereignis, das die Figuren ereilt, sondern es ist ebendiese Sprache, welche erst jene Ereignisse einläutet.

Freilich lässt sich das auch über andere Texte sagen. Die Besonderheit an diesem Stück liegt jedoch darin, dass die Sprache dies tut, indem sie sich selber auch ereignet, indem sie in ein und derselben Bewegung  in Erscheinung tritt und abtritt: In ihrer Leichtigkeit stellt sie sich ständig hinter dasjenige, das sie herstellt. Sie zeigt sich, indem sie sich nicht zeigt.

Ein Beispiel. Szene 16: Das Kind, das nie Kind sein wird «entwickelt sich»:

«Er entwickelt sich und

wickelt sich ab

ab

von uns ab

jeden Tag mehr ab

am Anfang wickeln wir ihn

um uns herum dann

wickelt er sich um mich um

Dich weil er allein

nicht stehen gehen nichts kann.»

Und am Ende der Szene heisst es:

«[…] er

kann sich nicht

um sich selbst

wickeln

er krümmt sich

verkrümmt sich

verkümmert sich.»

Einerseits durch das Abstossen von Silben, «entwickelt – wickelt», andererseits durch das leichte Alternieren der Konsonantenstruktur, «verkrümmt – verkümmert», treibt die Sprache hier die Ereignisse voran, und löst sich von diesen. Der Unterschied zu einem blossen Wortspiel ist dabei, dass das nachfolgende Wort die Ereignisse und Handlungen trägt, in einer Weise, als hätten die vorangestellten Verse, Wörter, Szenen, nichts anderes getan, als genau zu diesem Punkt hingearbeitet. Aber immer unintentiös. Unwissend-wissend.

An vielen Stellen in Hölls Stück können wir zusehen, wie sich die Sprache formt, schiebt, vorantreibt.

Das Wort, aus dem sich das nächste bildet, muss dazu jedoch, und das ist sehr wichtig, an der Stelle bleiben: Wenn wir «verkümmert sich» lesen oder hören, schwingt zwar das eben gesprochene Verkrümmen noch mit und auch das noch nicht gesprochene (und im Stück nicht gesprochene) Kümmern, doch als Widerhall, der uns wie ein unortbares Echo stets auf das eine Wort zurückwirft, und uns von den anderen loslöst. Deshalb ist es ungenau, von blossen Wiederholungen oder sich leicht alternierenden Wortfolgen zu sprechen. Wie die Worte aus dem Vorangegangenen geworfen sind und ihrerseits das ihnen Folgende werfen – durch Differenz, durch Lücke, Spalte, Einschub – lösen sie sich, an Ort und Stelle, von der ihnen zugewiesenen Stelle. Sie wiederholen sich nicht, viel eher wieder-ändern sie sich. Kontiguität, die sich an den Aussenrändern der Worte bildet, da nämlich, wo sie ungeheuerlich nah beieinander stehen.

Das ist sprachliche Höchstpräzision. Und eine schauerhaft leichte Ökonomie der Mittel.

Eben ohne Reisbrett, ohne Kalkül oder Kälte. Sondern warm, berührend, ergreifend.

Ein intuitives Regelwerk, wie das Astwerk der Bäume: Bauweise des Wachstums.

Deshalb ist es problematisch, davon zu sprechen, dass die Figuren hier um Worte ringen, dass ihnen die Sprache fehle, angesichts dieses einschneidenden Ereignisses. Ganz im Gegenteil werden sie dadurch erst zu Sprache befähigt und zum Sprechen angetrieben. Durch ein Ereignis, wohlgemerkt, dass sie selber wiederum initiierten: Das junge Paar zeugte das Kind, nicht der Herrgott, und schöpfte durch diesen Akt das sich bereits angekündigte Zukünftige. Indes halten sie aber auch an dem einzig formulierten und zu Beginn angekündigten Plan fest.

Es ist aber ein zweifaches, nein, dreifaches Ereignis, das sie ereilt: Einerseits also die Ankündigung und Geburt des von ihnen gezeugten Kindes. Andererseits leidet dieses, noch bevor und während es wird – und dadurch eben schliesslich nie werden kann – an einem Chromosomenfehler. Und schliesslich, dies alles initiierende und daraus resultierende Ereignis, das sich Sprache nennt.

Das Kind ist in einer ganz prekären und singulären Weise gefangen. Gefangen vom Umstand, dass seine genetische Syntax fehlerhaft ist. Doch ist es nicht die Struktur dieser Syntax, sondern sind es der Überschuss oder Mangel einzelner ihrer Elemente:

«doch wir sind drei

wir sind drei

wir sind

eins

zuviel

eins

zuviel

sind wir nicht.»

Das Zuviel ist des Kindes Mangel. Das Zuviel lässt es nur in und zu dem Nie-Werden werden. Es ist. In der fehlenden Potentialität eines späteren Seins. Es ist um nie zu werden und darin ist es ganz gewiss: Es weiss nichts davon.

Was bleibt ihm daher anderes übrig, als sich in diesem Immergleichen stets zu verändern?:

«Jeden Tag

ist er anders

jeden Tag

ist er der-

selbe und doch anders

jeden Tag

derselbe und doch ein anderer»

Und später heisst es deshalb in aller Konsequenz:

«jeden Tag

ist er mehr da

bis der dann

nicht an einem Tag

[…]

man merkt es erst gar nicht

nicht mehr wird

nicht mehr mehr wird

er einfach derselbe ist

jeden Tag ist er derselbe

nicht mehr wird

nicht mehr mehr wird

kein bisschen grösser

kein bisschen breiter

ein bisschen dünner

jeden Tag

wird er ein

wenig

weniger

jeden Tag wird er ein

wenig weniger

jeden Tag ist er

derselbe und doch

ein anderer.»

Auch darin ist die Sprache präzis: Ihre Grammatik ist jene des Kindes, ohne dass sie eine kindliche oder kindische wäre, keine Kindersprache. Nicht alleine, indem sie formal vollzieht, was sie semantisch behauptet – das ist bereits sehr viel, und leider reichlich selten –, sondern auch, indem sie dies – in aller Augenfälligkeit – nicht zu zeigen braucht.

Sie ent-wickelt sich, dem Spross gleich, wickelt sich an den Figuren, Schauspielenden und Lesenden, Hörenden, Sehenden ab.

Das kann sie nur, indem sie nichts davon weiss. Und weil sie nichts davon weiss, ist sie eine intelligente Sprache. Aber eben keine künstliche, artifizielle, oder gar gekünstelte Sprache, ganz im Gegenteil. Nicht nur aufgrund meines Schweizerischen, Bielerischen Idioms sage ich das, glauben sie mir: Hölls Sätze sind sprechende, gesprochene und zu sprechende Sätze, vielmehr, als so manch palavernden, scheinbar dahergesprochenen, vermeintlich «alltäglichen» Dialoge, wie wir sie aus so vielen anderen Theatertexten kennen.

So spricht man, so kann man sprechen. So sprechen wir alle.

Durch dieses selbstinitiierte, nicht-alltägliche, tragische und für die Rezeption glückliche Ereignis werden die Figuren zum Sprechen angetrieben, bewegen sie sich durch den Text, schieben sie sich durch Raum und Zeit des Geschehens, das sich wiederum durch ihre Bewegung konstiuiert: Sie gehen nach Kanada, sie kaufen ein Haus, sie nennen ihr Kind Frühling und läuten damit überhaupt Struktur und Zyklus des Textes ein.

Aber schauen wir genauer hin: Bis auf Frühling und Dany Daniel fallen ihre Namen nie wirklich. Bloss im Paratext, dem Stück vorgelagert, und auch da sind sie eher funktionaler Natur.

Wer welche Zeile spricht, wissen wir anhand des typografischen Einschubs, durch die Ausdehnung des den Worten vorgelagerten Weissraums.

Und tatsächlich sind die Figuren Einschübe, Einzüge, Hervorhebungen und Faltungen im Textgewebe.

So sprechen sie nicht selten davon, was sie überhaupt tun. In indirekter Rede formulieren sie Aussagen und Handlungen ihrer Figur.

Dass die Figuren durch das Ohnmachtsereignis zum Sprechen angetrieben werden, heisst daher auch, dass sie sich selber die Ereignisse schildern und beim Sprechen einander assistieren. Dadurch, dass die Sprechenden (ich denke noch gar nicht an Schauspielende) die Handlungen ihrer Figuren schildern, handeln diese in einem responsiven Verhältnis zur Sprache.

Darin ist der Text sehr szenisch: Noch auf dem Papier differenzieren sich Protagonisten, Figuren und Sprecher:innen heraus: es entsteht eine Bühne, noch bevor der Text auf Bühnen von Sprecher:innen gesprochen wird.

Ich würde deshalb meinen, «Drei sind wir» ist in einer ursprünglichen und fast schon archaischen Weise dramatisch, weil die Sprache sich ihre Figuren schafft, die dann – durch Sprache – sprechen und sich so einiges zu sagen haben.

Ich nenne das, ohne Klamauk, pures Theater.

Es gibt noch so viel, auf dass ich hier gerne eingehen möchte: Poesie, Artikulation, Tod, Kontingenz und Kontinuität, das junge Leben, das unsäglich geniale Bild der zweitletzten Szene – aber ich will uns alle nicht weiter aufhalten, und schliesse mit einer persönlichen Anekdote:

Wir sind heute nicht hier, weil Wolfram Höll ein freundlicher, einfühlsamer und selten intelligenter Mensch ist – auch wenn er selber das Gegenteil davon wäre, hätte sein Text diese Auszeichnung verdient – doch es gibt so etwas wie Haltung, die den Privatmensch Höll und den Autor Höll verbindet und mit der er glücklicherweise auch seine Texte schreibt.

Sich zurücknehmen.

Als wir noch am Literaturinstitut zusammen studiert haben, sah ich in Zurückhaltung eine künstlerische Schwäche:

Fehlende Welthaltigkeit, Mangel an Dringlichkeit, das Umschiffen von Politik.

Vielleicht auch Rauchschwaden, stille Ablenkungspetarden der Irrelevanz.

Ich dachte, wenn Kafkas Axt der Sprache ins gefrorene Seelenmeer zumindest Kerben schlagen will, kann sie nicht zurückhaltend sein, ganz im Gegenteil muss sie aggressiv und zerstörerisch wirken. «Aktiv», «potent», «exponiert» ist sie und sind ihre Milieus. Diese Meinung drängte sich uns vielleicht auch durch die Aussagen und das Verhalten einiger schlechter Dozenten auf. So meinte gerade ein Dozent, der mit einer besonders manieurierten, von unsäglich alpinistisch-romantischen pseudo-Helvetismen durchtränkten, im schlechtesten Sinne «Kunstsprache» herausstach, Sprache müsse sich zugunsten von «Inhalt» und «Handlung» zurücknehmen. Aus diesem Grund wohl, verachtete ich Zurückhaltung. Weil sie von jenen proklamiert wurde, die und deren Texte nicht im entferntesten einen Begriff davon hatten.

Nicht zuletzt Deine Stücke aber beweisen, dass es ganz im Gegenteil umgekehrt sein muss:

Poesie und Theater, wie du es schreibst, nimmt sich in sich selber zurück, und ist daher kein Schein, keine Heuchelei oder Floskel.

Du zeigst, dass Zurück-Haltung als Haltung des Zurück, zurück zu den Sachen, zurück zu der Sprache und den Dingen selbst führt.

Dafür bin ich Dir aufrichtig dankbar.

Deine Stücke sind ganz Welt, welthaltig, indem ihre Sprache die Bretter bedeutet, die dann die Welt bedeuten mögen.

Und ich danke denjenigen, die Wolfram Hölls Haltung unterstützen und vorantreiben.

In diesem Sinne ganz herzliche Gratulation zum Mülheimer Dramatikerpreis.

Meine Freude darüber ist sehr gross.

 

vorgetragen am 12. Juni 2016 von Patrick Savolainen