Laudatio auf Kristo Šagor zum Mülheimer KinderStückePreis 2019


KLEINE UNTERSCHIEDE

Liebe festliche Gemeinde, lieber Autor Kristo Šagor,

Ich darf heute die Laudatio auf Kristo Šagor und seinen Text ICH LIEB DICH halten, der in der Inszenierung der Münchner Schauburg den mit 10.000,- dotierten Mülheimer Kinder-Stücke-Preis 2019 gewonnen hat.

Ich überspringe die üblichen biografischen Fakten. Šagor kommt, wie der Name schon sagt, aus Norddeutschland und war dort in der Schule ein Ass. Er studiert folgerichtig so komplizierte Fächer wie Linguistik, Literatur- und Theaterwissenschaft. Und er schreibt, von früher Jugend an. Kristo Šagor war Anfang zwanzig, als er mit seinem ersten Stück DREIER OHNE SIMONE berühmt wurde. Das war 1999, das war, lieber Kristo (man sieht es Dir nicht an!), vor zwanzig Jahren!

Seitdem hat Kristo uns in regelmäßigen Abständen großartige Stücke und sehr schnell auch tolle Inszenierungen geschenkt. Ich erwähne nur zwei aus den letzten Jahren: „Patricks Trick“ (der große Bruder von ICH LIEB DICH) wurde über 30 mal nachgespielt, so viel wie kein anderes neues deutschsprachiges Stück seit der UA 2014. Und „Iason“ in der Braunschweiger Inszenierung, die gerade den Heidelberger Jugendstückepreis gewonnen hat. Womit wir alle in den Genuss davon kommen, dass wir IASON nächstes Jahr in Mülheim sehen – und ICH LIEB DICH in Heidelberg! Šagor-Festspiele! Ein Lob den weisen Kooperationskonstrukteuren!

Erwähnen möchte ich noch, dass Kristo Šagor auch ein begnadeter Bearbeiter von Vorlagen ist: In Düsseldorf z.B. haben wir „Die Schneekönigin“ und „Jugend ohne Gott“ gemacht, beides Erzählungen, Romane; ich erwähne das deshalb hier, weil Šagor als Autor das Kunststück vollbracht hat, Andersen und Horvath fast ausschließlich für sich und aus sich selbst im Original sprechen zu lassen – und doch ein Stück draus zu komponieren.

Mehrfach lese ich in alten Kritiken: „Šagor hat ein Schauspielerstück geschrieben.“ Oder „Ein Schauspielerfest“.- Was heißt das? Er liebt atemberaubend schnelle Rollenwechsel. Er liebt die strenge Form, die Freiheit im Spiel gibt; er liebt die Klarheit und Einfachheit, die so schwer herstellbar ist. Er liebt die Reduktion der Mittel. Er liebt die feinen Zeichen, er liebt die Leichtigkeit. Und er liebt die Fallhöhen. Doch davon später.

Jetzt zur Sache: ICH LIEB DICH ist ein Auftragswerk. „Hier stock ich schon.“, sagt Goethes Faust (den FAUST hat er auch gewonnen! Als Regisseur! Für AutorInnen gibt es leider noch keinen FAUST! Wie schade!). - - Auftragswerk - das kann verdammt schiefgehen. Wenn ich, um mal ein ganz weit hergeholtes Beispiel zu nehmen, aufgefordert worden wäre, ein Stück für 8Jährige über Liebe zu schreiben, hätte ich zwei Kinder genommen, die sich auf dem Schulhof verlieben, einen Bösen – z.B. den kleinen Bruder – dazu erfunden, der die beiden immer auslacht und dafür Prügel bezieht – und vielleicht einen Opa, der von der Liebe erzählt. Das Stück wäre lustig und sentimental gewesen – und ziemlich sicher hätte es nicht den Mülheimer KinderStückePreis erhalten… Denn was macht ein RICHTIG GUTER Autor aus so einem Auftrag? Was macht Šagor? Er geht NICHT den direkten Weg nach dem Motto „Thema ist gleich Plot!“ Sowas interessiert ihn nicht. Er umkreist das Thema, interessiert sich für die Antipoden – z.B. die Scheidung der Eltern als ein Ausgangspunkt, also das Verblassen der Liebe – und stößt irgendwann zum Kern vor.

So fängt das Stück an:

Julian sagt: Ich liebe dich. Lia: Ich dich nicht.

Ich denke: das kann ein interessanter Abend werden.

Schon auf Seite 6 kommen neue Aspekte hinzu: „Ich hatte ein Meerschweinchen. Das habe ich geliebt. Es hieß Muppi.“

Ok. Wohin zum Teufel, denkt der mit allen Wassern gewaschene Dramaturg ängstlich, will der Autor?

Und dann das: Šagor lässt das Meerschweinchen auftreten. Also: Lia spielt das Meerschwein. Also die Darstellerin der Lia spielt das Meerschwein. Und die Szene endet nicht irgendwie niedlich oder albern, sondern mit der Trauer über den Tod des Meerschweinchens und mit der fundamentalen Klage: „Was ist das für eine bescheuerte Liebe, der Zeit was anhaben kann?“

Ich lehne mich zurück. Das ist einer der Šagorschen Sätze, bei denen ich „STOP! Danke! Ich

möchte nachdenken!“ rufen möchte. Aber das Stück rast weiter. Später spielt die Darstellerin der Lia auch das Zitroneneis. Dazu später mehr.

Wir kommen zu Oma und Opa. Einundvierzigeinhalb Jahre verheiratet.

„Opa, was ist Liebe?“

Opa: „Immer wenn du glaubst, du hast was kapiert, flutscht sie dir wieder durch die Finger.“

Oma: „Liebe ist eine spezielle Art der Angst.“ (Halt! Will ich wieder rufen… ich gebe auf.) „Die Angst, den anderen zu verlieren. Weißt du, was das Gegenteil von Liebe ist?“

Julian: „Hass?“

Oma: „Das dachte ich auch. Aber dann habe ich gemerkt, dass Hass Liebe ist – mit einem Minusstrich davor.“

 

Ich habe diese Stelle ausgesucht, weil ich in meiner Rede unbedingt den Satz unterbringen wollte: Kristo Šagor hätte meiner Meinung nach Mathematiker werden können. Er wäre ähnlich erfolgreich gewesen wie als Theaterautor (aber wären vielleicht die Preisgelder viel höher!?). Lesen Sie seine Stücke. Schauen Sie seine Inszenierungen an. Sie werden verstehen, was ich meine.

Oma sagt: „Das Gegenteil von Liebe ist Angst.“ Julian antwortet: „Liebe kann doch nicht gleichzeitig Angst sein und das Gegenteil von Angst?“ Oma darauf: „Die Liebe ist alles. Angst und das Gegenteil von Angst.“


Šagor ist der lebende Beweis, dass (wie ich in der Schule immer dachte) Mathe und Theater kein Gegensatz sind, dass Komplexität aushaltbar ist, sogar bei Juroren und Kritikern erfolgreich sein kann UND geliebt wird von den Zuschauern. Allen Vereinfachern, die zu wissen glauben, was für Kinder auf der Bühne richtig und gut ist und „was die Kinder wollen“ - sollten so ein Stück wie ICH LIEB DICH von Šagor lesen, hören und sehen.

Šagor fragt nach Grundsätzlichem, nach der Existenz des Menschen, die er für ebenso rätselhaft wie ergründbar hält. Er fragt danach, was den Menschen menschlich und unmenschlich macht. Er fragt nach den Monstern in uns genauso wie nach den Schutzengeln. Nach dem was uns zerstört und nach dem was uns Kraft gibt. Er schreibt nicht nach Moden, er schaut nur unglaublich aufmerksam in die Welt, registriert deren Erschütterungen, horcht in sich hinein, konstruiert und komponiert – und kommt jedes Mal zu dem Ergebnis, dass nichts auf der Welt einfach ist – aber dass man darüber mit Klugheit, Humor und Menschenliebe eine Geschichte schreiben kann. Und dass es vielleicht am spannendsten ist, diese Geschichte an Kinder oder Jugendliche zu richten. Weil er spürt, dass bei Kindern noch unendliche Bewegung herrscht, im Hirn und im Herzen. Und das will er mit seinen Stücken: Das Denken in Schwingungen bringen – und dabei Herzen brechen. Komplexität ist sein politisches Statement: „Unsere Gesellschaft scheitert, wo wir unser Gegenüber auf eine Rolle reduzieren, die es für uns einnimmt: Angestellter oder Chef oder Elternteil oder Kind oder – sogar das – Geliebter an der Seite des Geliebten. Im wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis ist es ein verletzlich machendes Wagnis, das menschliche Du im Gegenüber zu suchen, und diese Suche hat rein gar nichts mit Anbiederung zu tun.“ Ein verletzlich machendes Wagnis – und ein hochpolitisches, wie ich finde, in den Zeiten der Community-Blasen, in die wir uns kommunikativ einschließen, um vor Wagnissen, vor Abenteuern geschützt zu sein...

Jungsein ist so schrecklich und so schön wie sonst nichts. Jugend ist erbarmungslos, brutal, herzzerreissend (wie die Liebe!), Jugend ist Horror, Slapstick, Heldentum und Angst. Angst vor der Zukunft, Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht, Verzweiflung über die Unmöglichkeit der Liebe. Mit anderen Worten: das beste Material, das es gibt auf der Welt für einen Dramatiker wie Kristo.

Ich wage übrigens hier die These, dass Šagor mit der „Liebe“ sein Kernthema gefunden hat. Die Zugewandtheit von Menschen, die feinen Nervenstränge von Beziehungen, die Abgründe des Nichtgesagten, das alles interessiert ihn, das durchzieht alle seine Stücke.

Die Bewegtheit, dieses Jungsein spürt der Autor auch bei sich. Šagor würde, wenn ich ihn nach seinem gefühlten Alter fragen würde, vermutlich zwei Antworten geben: „Ich bin so alt wie ich bin“. Und: „Jünger“. Ich habe ihn dazu nicht befragt, aber ich spüre das. Deshalb übrigens ist er so ein Glücksfall für das Theater, das sich einem jungen Publikum zuwendet. In ICH LIEB DICH heißt es: „Aber ist das nicht das Besondere an der Liebe, dass sie bleibt?“ - Auch zwischen Dir und dem „Jungen Theater“ ist das Besondere, dass die Liebe besteht. Seit 20 Jahren! Herzlichen Glückwunsch zu so viel Entschiedenheit und Verbundenheit mit einem Genre, dem auch Du durch Deine Arbeit dazu verholfen hast, dass es im Jahr 2019 wirklich niemand mehr unterschätzen, kleinreden oder ignorieren kann. Und dass der Kinderstückepreis schon bei 2/3 des Preises fürs Erwachsenentheater ist - wow! Wir sind auf dem Wege – und wir geben nicht auf, bevor wir nicht gleich behandelt werden! Es ist ja nicht irgendwie einfacher, ein Stück für Kinder zu schreiben! Eher im Gegenteil. Liebe Geldgeber, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Seien Sie nicht die letzten, sondern die ersten, die die unverständliche Ungleichbehandlung abschafft!

Kristo Šagor schreibt über das Alter im Programmheft des Schauspiel Hannover, im Jahr 2009: „Die Hauptdarstellerin meiner ersten richtigen Regiearbeit DURSTIGE VÖGEL am Münchner Volkstheater sagt im November 2002 einen Satz zu mir, den ich nicht verlieren möchte: „Ach, ich hatte wieder vergessen, dass du auch einer dieser alterslosen Menschen bist.“ Das „Auch“, sagt Šagor, „macht uns zu Komplizen. Künstler zu sein bedeutet, noch im Alter das innere Kind zu fördern, es nicht aus dem Haus zu jagen oder im Keller zu vergraben, sondern ihm im Gegenteil einen riesengroßen Spielplatz zu bauen, im Alltag, im Berufsleben, einen Spielplatz, den man als Pantheist auch getrost Tempel nennen darf. Künstler sein bedeutet, die Welt schon als Kind mit dem Ernst des Alters zu betrachten, den Rucksack vollgestopft mit Gedanken und Gefühlen, jede Regung erschwert und verlangsamt von äußeren und inneren Kontexten, so wach und schon so müde, zu lächeln, im Angesicht zahlreicher Verweise und Erinnerungen zu lächeln.“

Lieber Kristo, Linguist, Literaturwissenschaftler, Regisseur, Schriftsteller – wie schaffst Du es, mit so vielen Kontexten noch zu lächeln – und zu schreiben? Ich könnte das nicht.

Ich aber kann bei Šagor manchmal in den Dialogen versinken, träumen, stecken bleiben, nicht mehr mitkommen oder das Gefühl haben, kurz mal fünf Minuten über diesen einen Satz nachdenken zu müssen. Šagors Stücke haben Tempo, der Einsatz ist hoch, und meist ist erst mit dem letzten Satz alles gesagt. Wie in ICH LIEB DICH:

Denn wenn Šagor von der Liebe redet, redet er auch vom Tod. Ich hätte es vorausahnen können. Er liebt die Fallhöhe. Am Ende wird überraschend klar, dass Lia bereits vor Jahren gestorben ist. Fahrradunfall. Sie ist begraben, im Garten der Großmutter. Kristo Šagor erzählt ein Stück von der Liebe des Julian, von der Liebe, die über den Tod hinaus währt. Ganz groß und ganz unpathetisch.

Und er fragt auch nach Geschwisterliebe, Elternliebe, alter Liebe, junger Liebe, Haustierliebe und Liebe zum Lieblingseis. „Da steckt viel von meiner eigenen Kindheit drinnen“, sagt er der Süddeutschen Zeitung, „denn ich hatte genauso wie meine Figuren ein Meerschweinchen als Haustier und Zitrone war mein Lieblingseis“.

Mein Lieblingsabschnitt in ICH LIEB DICH ist folgender, denn er steht für den Dichter und sein Werk wie kein anderer. Und das Mädchen sagt ihn. Kristo hält Mädchen offenbar für deutlich schlauer als Jungs.

Denn Julian sagt: „Der Unterschied ist echt klein.“

Darauf antwortet Lia: „Kleine Unterschiede sind wichtig! Viel wichtiger als große. Große Unterschiede sieht jeder! Der Unterschied zwischen „ich liebe dich“ und „ich lieb dich“ zum Beispiel. Nur ein Buchstabe, ja? Aber „Ich lieb dich“ sagen sie nur, wenn sie sich gestritten haben. Oder wenn sie sich entschuldigen wollen für irgendwas. „Ich lieb dich doch, mein Schatz“… „Ich liebe dich, MIT E, kommt nur, wenn sie sich ganz sicher sind.“

Schon für diese Sätze hat der Autor Kristo Šagor die Ehrung verdient. Denn er steht für ein Theater, das sinnlich UND kompliziert ist. Ambitioniert, allumfassend, riesengroß und unerklärlich. Wie die Liebe!

Die Jugendjury hat auch noch eine Erwähnung verdient, denn sie hat Dir den Preis mit den unsterblichen Worten verliehen: „Lieber Herr Šagor, die Jugendjury hat sich für Ihr Stück entschieden, da dieses uns am meisten berührt hat.“ - - Ein Lob der Jugend! Lob der Jury! Lob der Auftraggeberin Andrea Gronemeyer und die Schauburg München! Lob dem Kinder- und Jugendtheaterzentrum und seinem Projekt NAH DRAN, in dessen Rahmen die Stückentwicklung gefördert wurde.

Kristo sagt, angesprochen auf seine erfolgreiche Arbeit an „Jungen Theatern“: „Ich hoffe doch, dass ich vor allem Autor bin, dessen Texte man ohne die Einschränkung „Jugendtheater“ ernst nehmen kann, für die kein Label der Verharmlosung passt.“ - Herzlichen Glückwunsch, Kristo, der Mülheimer KinderStückePreis kann sich glücklich schätzen, dass Du ohne jede Verharmlosung ICH LIEB DICH geschrieben hast! Und deshalb freuen uns alle jetzt mir Dir über den Preis der Jury! Der Autor, das Stück und die Liebe haben es verdient, heute gefeiert zu werden!


Stefan Fischer-Fels
Mülheim an der Ruhr, 23. Juni 2019