Sehr geehrte Jury, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Katja,
Was deine Texte auszeichnet, zeigt sich schon im Titel des Theaterstücks, für das du den Mülheimer Dramatikerpreis 2013 bekommst: „Von den Beinen zu kurz“; eine leise Irritation, entstellte Aehnlichkeit, denke ich mit Walter Benjamin und ertappe mich dabei, dass ich trotzdem sofort zu verstehen glaube, was gemeint ist, jemand hat zu kurze Beine, aber wozu, denke ich weiter, um wegzurennen oder um Germanys next Topmodel zu werden, und genau dieses „mich bei etwas ertappen“, mir beim Denken und Empfinden quasi zusehen zu können, geschieht beständig, wenn ich deine Texte lese oder sie höre, sie verkörpert sehe auf der Bühne; ich bin nicht nur mit dem, was deine Figuren sagen, denken, sehen, hören beschäftigt, sondern immer auch mit meiner eigenen Wahrnehmung, mit meinen Urteilen und Vorurteilen, mit meiner Orientierungs- und Einteilungssehnsucht, meinem Wahrheitsfanatismus, was ist jetzt, was war genau, was wird sein; ich setze mich unweigerlich in ein Verhältnis zu dem, was in deinen Texten verhandelt wird; ich kann nicht anders, weil deine Sprache mich dazu zwingt, weil sie gleichzeitig ausstellt, was sie verhandelt, dieses vielstimmige Gespräch, das da geführt wird von Figuren, die mal „ich“ sagen, dann wieder aus sich heraustreten und diese seltsamen Wesen betrachten, die vielleicht, womöglich sie selber sind. Nähe und Distanz, Identifikation und Befremdung – deine Texte eröffnen den Spielraum dazwischen; es ist der Spielraum unserer Existenz, es ist die Freiheit, die wir Menschen haben (oder haben sollten), es ist die Freiheit, von der Kierkegaard sprach, wenn er sinngemäss schrieb, die einzige Freiheit des Menschen bestehe darin, sich selber zu wählen; nicht etwa darin, ein anderer, eine andere zu werden, sondern in ein Verhältnis der Wahl zu sich selber zu treten. Wer die Wahl hat, hat auch eine Verantwortung, sich selber, seinen Mitmenschen und der Welt gegenüber. Die Situationen, in die du deine Figuren stellst – etwa die Mutter, wenn sie beobachtet, was sie nachher nicht gesehen haben will -, erinnern uns daran, dass auch wir eine Wahl haben und eine Verantwortung.
Nähe und Distanz, Innensicht und Aussensicht – sie bedingen einander in deinen Texten, für die gilt: die Summe ihrer Teile ist mehr als das Ganze; da wird nichts lückenlos aufgedeckt und zu Ende erzählt, da gibt es keine Behauptung einer alles umfassenden Kohärenz, genauer vielleicht: alles umfassend, ja - diesen Hang und Drang gibt es in deinen Texten, er nährt sich aus deiner umfassenden Neugier -, kohärent im Sinne eines Puzzles, wo ich nur alle Teile richtig zusammenfügen muss, um, eben, ein lückenloses Bild, eine schlagende Beweisführung, eine hieb- und stichfeste Indizienkette zu bekommen: nein. Dazu passt, dass du dich wenig um Kategorien und Genres scherst, da bist du natürlich nicht die erste Theaterautorin, auch nicht die einzige, das ist Konsens geworden, Common Sense; dennoch, auch wenn in deinem Stück „Von den Beinen zu kurz“ Märchen erzählt und einander diametral widersprechende Mutmassungen angestellt werden, auch wenn es keine definierten Figuren und keine Wahrheit gibt, höchstens die Sehnsucht danach: du unterliegst als Autorin nicht der Versuchung einer reinen Auslegeordnung, einer blossen Materialsammlung, die meines Erachtens allzu manchen zeitgenössischen Theaterabend charakterisiert: Hier habt ihr die Chose, schaut selber, was ihr jetzt damit macht. Deine Texte überlassen uns Leserinnen und Zuschauern zwar vieles, siehe oben, aber du wirst als Autorin dabei nicht unverbindlich. Im Gegenteil, du bist - als Autorin, nicht etwa als Privatperson -, anwesend in allem, was du schreibst: Denn was deine Texte – vielleicht vor allem anderen – kennzeichnet (und auszeichnet!), ist Empathie. Deine Texte sind getragen von einem emphatischen Interesse an der Welt, am Gegenüber, an verborgenen Zusammenhängen, an Geschichte, Medizin, Naturwissenschaften und Politik, am Leben und Werk von Künstlerinnen und Künstlern aller Sparten. Nichts lässt uns kalt, wenn wir deine Texte lesen; ihre Betriebtemperatur ist hoch und erhöht unsere eigene, physisch, psychisch und intellektuell; sie stimulieren unsere Fähigkeit zur emphatischen Anteilnahme – nicht etwa mit einer einzigen Figur und ihrer Sichtweise, sondern eben mit der Komplexität höchst unterschiedlicher Wahrnehmungen und Behauptungen. Emphatisch - so habe ich dich auch in der Begleitung deiner Arbeit erlebt, in den Mentoratsgesprächen über deine Texte, bei deinen Bühnenauftritten, in einem Seminar debattierend, Fragen stellend, damit manchmal auch die schweigende Mehrheit provozierend. Wenn dir eine Diskussion sinnlos erschien oder uninspiriert, zu wenig leidenschaftlich, hast du schon mal den Raum verlassen; einem geradezu körperlichen Unbehagen folgend, musstest du sofort etwas essen, trinken, umhergehen; du warst der Seismograph für die Qualität eines Gesprächs; was du von dir selber einforderst: intellektuelle, emotionale, wahrnehmende Präsenz, den Mut, die eigene Ratlosigkeit einzugestehen, Zweifel zu benennen und manchmal auch die Verzweiflung, die grundsätzliche Bereitschaft, noch einen Schritt weiterzugehen, weiter zu denken, sich nicht zufriedenzugeben, weder mit der erstbesten Lösung noch mit der zweiten oder dritten Ueberarbeitung - all das forderst du auch von uns, dem Publikum, den Leserinnen und Lesern, deinen Kommilitonen und Freundinnen.
Empathie ist nicht zu verwechseln mit Pathos; sobald sich deine Texte ins Pathetische zu erheben drohen, lässt du sie vor unseren Augen und Ohren fallen, leichthin, ohne jedes Getöse: „Ein Hunger ein Durst ein Verlangen nach einer Erklärung oder mindestens einem Glas Sirup“; auch der Schluss deines Stücks vollzieht diese Bewegung: „ICH KOMME WIEDER. Oder DANKE, PAPA. - Nein. - Für das, was sie sagen wollte gibt es keinen Satz mehr. - Ach so.“
Da sind wir also, liebe Katja, ich möchte nicht sagen, auf dem Boden der Realität, aber angekommen im Leben und in der Zeit und bei uns selbst; dass heute der 16. Juni ist, ist ein Zufall; und auch wenn ich ihn nicht weiter strapazieren will, so fällt mir doch Ingeborg Bachmann ein und ihr Satz, man müsse den Zufall als Figur des Gedächtnisses begreifen, die gelesen werden will; heute ist der Joyce’sche Bloomsday, und das scheint mir trotz allem irgendwie passend; nicht, dass ich dir eine Nähe oder Verwandtschaft zu Joyce und seinem Ulysses andrehen wollte – ich sehe sie, wie erwähnt, in der formalen und inhaltlichen Breite, in der überbordenden Fabulierlust auch -, aber ich will auf etwas anderes hinaus; ich stelle mir vor, dass die Affirmation, die du hier und heute erfährst, dich bei aller Freude und allem Stolz, die du hoffentlich auskosten und geniessen kannst, auch irritieren muss; du bist die jüngste Preisträgerin aller Zeiten, schrieb mir Stephanie Steinberg, „die Prinzessin sitzt auf dem Thron, der zu hoch ist, um wieder runterzukommen“, heisst es in einem der Märchen, und man stellt sich die Aussicht von dort oben ebenso erhebend vor wie seltsam abgehoben, ebenso beängstigend wie grossartig; ich wünsche dir, liebe Katja, dass du von diesem Thron wieder runterkommst und deinen eigenen Weg weiter gehst; ich bin sicher, dass du es schaffst; Joyce und sein Werk mag dir dabei als dir heute zufallende Referenz hilfreich sein; es gibt ein Leben nach dem Mülheimer Dramatikerpreis; dass du ihn mitnimmst und annimmst als Wegzehrung, die dich weiter trägt in jene Zukunft, die wir alle noch nicht kennen; das wünsche ich dir und das wünsche ich uns. Ich gratuliere dir von Herzen.
Ruth Schweikert, 16. Juni 2013