
Ich war oft in Mülheim bei den Theatertagen, wirklich oft, als Autor, aber auch schon davor, in den frühen 90er Jahren, als Regieassistent von eingeladenen Produktionen anderer Autorinnen und Autoren. Jedesmal, wenn ich in die Stadt komme, ist Frühling, und jedesmal überrascht mich die Stadt aufs Neue. Viel Grün, viel Grau, der träge, sehr gelassene Fluß. Die Innenstadt verödet, wie alle Innenstädte. Eine Spielhalle heißt, falls sie nicht inzwischen geschlossen hat, LAS VEGAS. Die Stadt hat sich verändert mit den Jahren, das Festival hat sich verändert, das Publikum hat sich verändert, die Gesprächskultur hat sich verändert, deutlich, zum Guten.
Die Stadt ist nicht einfach zu fassen, genauso wie die Spielstätte, an der die meisten meiner Texte dort gezeigt wurden, die keineswegs einfach zu bespielende Stadthalle. Der Ort entzieht sich, man weiß nicht, wo er anfängt und wo er aufhört, und gleichzeitig steht er immer auch im Vordergrund, mit scharfen Kanten. Hier ist der wichtigste, um nicht zu sagen, der einzige Wettbewerb deutschsprachiger Dramatik zu Hause, und hier sind, tief im Westen, alle, die mit den Lastwagen voller Kostüme und Kulissen ankommen, irgendwie alle fremd, so wie auch die Texte, die Aufführungen, die sie mitbringen, alle fremd sind, alles ist neu, immer, egal, wie oft man hier ist.
Theatertexte leben von ihren Aufführungen, erst durch die Aufführung wird Theater das, wofür es gedacht ist: ein öffentlicher Vorgang. Daß damit - in Mülheim und überall sonst - Stücktext und Aufführung nicht voneinander zu trennen sind, ist klar. Das hat Vor- und Nachteile. Schwache Texte können mit virtuosen Inszenierungen wachsen, starke Texte können mit falschen Inszenierungen untergehen, diesem Dilemma kann man nicht entgehen, aber natürlich, und das ist viel wichtiger, ist es großartig, was hier geschieht, die Liste der Stücke, die es in den letzten 50 Jahren hier zu sehen gab, ist, auch wenn es da ganz sicher keinen Anspruch auf Vollständigkeit geben darf, schlicht großartig. Herzlichen Glückwunsch zum Fünfzigsten!
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Roland Schimmelpfennig, Gewinner des Mülheimer Dramatikpreises 2010, des Mülheimer KinderStückePreises 2023 sowie des Publikumspreise 2024, bisher einziger Autor, der alle drei Mülheim-Preise gewonnen hat