
Herzlichen Glückwunsch zum 50., liebe Mülheimer Theatertage!!!
2007 waren wir (Helgard Haug und Daniel Wetzel) zum ersten Mal mit dabei: Was für eine Aufregung - plötzlich ging es nicht nur um die Qualität eines Theater-Textes, sondern auch um die Entstehung eines Textes, eine andere Theater-Praxis. Die ProtagonistInnen waren nicht in fremde Rollen geschlüpft und sagten auswendig gelernte Texte auf, sie vertraten sich selbst. Sprachen mit ihren Worten in einem Stück, das aus diesen heraus entwickelt wurde - auch noch von einem AutorInnen-Team. Die Debatte um das Stück und den Preis wurde leidenschaftlich geführt - aber - rückblickend und im Vergleich mit anderen Debatten in anderen Jahren - auch unglaublich aufgeschlossen und neugierig. Es gab eine Lust an diesem ‘Anderen’. Was für Impulse könnten davon ausgehen? Wie könnte es Gewohntes ein bisschen schütteln und auf den Kopf stellen?
Unsere Stücke entstehen oft aus der Ver- und Bewunderung heraus, was alles in einem Menschenleben geschehen kann. Wie wandelbar das Leben ist, wie widersprüchlich, wie es sich selbst überholen oder eine Rolle rückwärts machen kann.
In der Inszenierung von “Karl Marx: Das Kapital, Erster Band”, die vor 18 Jahren den Jury- und den Publikumspreis erhielt, liegt eine Ausgabe dieses großen Werkes unter einer Kamera. Das Bild wird auf den darüber hängenden Monitor übertragen. 751 Seiten liegen zwischen dem ersten und dem letzten Satz – zwischen: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ´ungeheure Warenansammlung´, die einzelne Ware als seine Elementarform“ – und: „Was uns allein interessiert, ist das in der neuen Welt von der politischen Ökonomie der alten Welt entdeckte und laut proklamierte Geheimnis: kapitalistische Produktions- und Akkumulationsweise, also auch kapitalistisches Privateigentum, bedingen die Vernichtung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums, d.h. die Expropriation des Arbeiters“. Auf einzelne Seiten sind mit einem dicken roten Stift Jahreszahlen geschrieben. Im Verlauf des Stücks wird also durch den Text geblättert, aber im Leben der ProtagonistInnen Station gemacht. Wir fangen im Jahr 1944 an und blättern uns über die Jahre: 1966, 1969, 1971, 1973, 1985, 1992, 1996, 2000 in die - damals - ferne Zukunft: Das Jahr 2015. Uns hat die ganz persönliche Zukunftsprognose der ProtagonistInnen interessiert und 2015 schien sehr weit weg. Alles schien möglich in dieser fernen Zukunft, die Aufführung für Aufführung näher rückte.
So möchten wir zum Anlass dieses 50. Geburtstags noch mal auf die Prognosen und Wünsche der ProtagonistInnen schauen - für einen Zeitpunkt, der jetzt schon wieder 10 Jahre Geschichte ist:
Sascha Warnecke (Revolutionär, Azubi Medienkaufmann ) sagte: “Ich wünsche mir natürlich, dass die Weltrevolution eingetreten ist. Dafür müssen erst einmal die Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt werden: Nahrung, Bildung, Kultur. Und zwar weltweit für alle – und kostenlos. Talivaldis Margevic (Historiker und Filmemacher aus Lettland) sagte: “Ich werde mir meine alten Filme anschauen und darüber nachdenken, dass letztlich alles in der Welt in seine Kreisläufe zurückkehrt.” Jochen Noth (Unternehmensberater, Dozent, Schwerpunkt China und Asien) prognostizierte: “Ich werde zum 500. Mal in ein dann prosperierendes und demokratisches China fahren.” Als nächstes trat Ulf Mailänder (Autor und Coach in der Rolle von Jürgen Harksen, Anlageberater) mit den Worten vor: ”Ich werde Philanthropischer Berater reichen Menschen helfen, ihr Geld sinnvoll anzulegen nach der Devise „Sinn-Maximierung anstatt Gewinn-Maximierung“!” Thomas Kuczynski (Statistiker & Wirtschaftshistoriker, Editor) war sich sicher: “Zu dem Zeitpunkt wird meine Ausgabe erschienen und hoffentlich ausverkauft sein – als Beitrag zur Weltrevolution.” Franziska Zwerg (Übersetzerin), lies verlauten “2015 werde ich ‘Das Kapital’ immer noch nicht gelesen haben” und Ralph Warnholz (Elektroniker im Öffentlichen Dienst, ehemaliger Spieler) schloß mit dem Satz: “Ich geh auf Weltreise als Rentner!” Die Trefferquote wurde immer schlechter, je weiter der Blick weg vom eigenen Leben in eine politische Landschaft führte… Was läßt sich erahnen vor der Zukunft?
Liebes Geburtstagskind - es wird wohl also anders kommen, als gedacht und deshalb wünschen wir dir vorallem Offenheit - und viele aufregende Festival-Ausgaben mit tollen Stücken, einem begeisterungsfähigen Publikum und heißen Diskussionen!
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Helgard Haug und Daniel Wetzel (Rimini Protokoll)
Haben 2007 den Dramatikpreises und den Publikumspreises gewonnen sowie des Publikumspreises 2014