
Die Aufführung, die nicht stattfand
Mit dem Gedächtnis ist es so eine Sache. Mal behält es Dinge, mal löscht es sie, ganz wie es ihm beliebt.
Wenn ich an meine Zeit bei den Mülheimer Theatertagen zurückdenke, dann steigen in meiner Erinnerung Namen an auf wie Luftblasen in einem Teich: Namen von Stücken, Namen von Autoren oder Theatern, aber keine Bilder, keine einzelnen Szenen oder Gesichter, nur Namen, sonst nichts. Totenauberg, Waikiki-Beach, Goldberg-Variationen, Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos – warum nur diese und andere nicht? Ich weiss es nicht.
An eine Aufführung aber erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre: Peter Handkes «Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten» im Burgtheater in Wien, ein Stück ganz ohne Worte, eine Regieanweisung eigentlich nur, sonst nichts. Auf der Bühne eine Rampe, die in einem grossen Bogen in den Raum hineinragt, und Menschen, viele Menschen, die über diese Rampe gehen, nein, nicht einfach gehen, sondern schreiten, stolzieren, schlendern, hinken, stolpern, hüpfen, rennen und was der menschlichen Bewegungsarten mehr sind.
Das geht so dahin, ganz lustig, das Ganze, aber auch ein wenig langweilig – bis, ja bis einer an der Kurve nicht wie alle andern abbiegt, sondern weitergeht und in hohem Bogen in den Orchestergraben fällt. Im Publikum ein Raunen, einzelne Lacher, neugierige Blicke, gereckte Hälse… Endlich geschieht etwas, endlich hat das Stück Fahrt aufgenommen und Handlung versprochen. Doch das war keine Handlung, es war ein Unfall! Das wird uns klar, als ein Mann – oder war es eine Frau, ich weiss es nicht mehr – an die Rampe trat und verkündete, dass sich der Schauspieler verletzt habe und die Rettung, wie es in Österreich heisst, gerufen sei. Diese erschien denn auch bald, der verletzte Schauspieler wurde geborgen und auf einer Bahre aus dem Theater getragen. Er hatte sich offenbar einen Arm gebrochen. Mit dem gesunden winkte er uns zu und verschwand.
Was folgte, war die Mitteilung, dass die Aufführung nicht fortgesetzt werden könne, da ein Darsteller fehle, der sich auf die Schnelle nicht ersetzen lasse. So verliessen wir denn das Theater nach etwa 20 Minuten. Als der Taxifahrer mich auf den Heimweg fragte: «Na, wie war`s denn, gnädige Frau?», musste ich ihm sagen. «Ich weiss es nicht, die Aufführung fand nicht statt.» In meinem Gedächtnis aber hat sie sich eingeschrieben wie keine andere sonst.
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Dr. Klara Obermüller, erste Frau im Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage (1992–1994)