Mein Sohn gehört uns
Ein Kind ist gestorben. Ein Unfall. Die Eltern reagieren auf diesen Schicksalsschlag unerhört radikal: Sie ignorieren die Trennlinie des Todes und betäuben ihren Phantomschmerz mit einem Phantomkind. Renate und Konrad sprechen, spielen, leben via Chatfunktion mit ihrem einzigen Sohn. Und sie tun das nicht nur für sich. Sie ringen mit den Behörden darum, dass ihr Kind weiter zur Schule gehen darf.
„Was uns angeht, hat unser Sohn einfach seit dem Unfall eine extreme Form von Demenz“, sagt Renate. Ist das nun krank, ist das visionär, ist das moralisch verwerflich? Im angebrochenen Zeitalter von Avataren und Bots und Menschen, die auf Hologrammkonzerten verstorbenen Idolen zujubeln, ist es jedenfalls bedenkenswert. Umso mehr, als TV-Reporterinnen, Youtuber und Instastorys den Entschluss der Eltern ohnehin zum nächsten Netzhype aufblasen.
Ein kühnes Denkstück hat der 40-jährige Wiener Autor Clemens J. Setz hier angezettelt. Eines, das die Grenzen zwischen Liebe und Tod ebenso gründlich neu vermisst wie die Grenzen der sozialen Toleranz.
Oberstes Gebot in dieser Figurenaufstellung ist selbstredend, dass Renate und Konrad nicht wie Spinner oder wie Sektierer auftreten. In der Uraufführung am Schauspiel Stuttgart wirkt das Tun und Denken der Eltern denn auch um keinen Deut greller als die Social-Media-Marodeure, die sich ungeziefergleich in der digitalen Möchtegern-Eremitage von Konrad und Renate einnisten. Dass diese Medienmenschen ihre Jobs deutlich überkostümiert und mit fragwürdig gebleichten Einheitsfrisuren erledigen, ist noch der freundlichere Teil ihrer Selbstdarstellung. So lebt sich die Groteske aus, die Regisseur Nick Hartnagel für sich im Text entdeckt hat.
Wesentlich komplexer darf man sich Szenen einer Ehe vorstellen, in der ein mit Tablet und Webcam hochgerüsteter Rollstuhl tagtäglich das leibliche Kind ersetzt. In der der Vater und die Mutter im Prinzip wissen, dass sie ihren Sohn nur in ihrer eigenen virtuellen Vorstellung behaupten. Und dass dieses „Nur“ doch für sie die Welt bedeutet. Kein Wunder, besitzt ihr Apartment mit seinem Kreuz-Grundriss, seinen Vorhangwänden und Projektionsflächen den Charme eines VR-generierten Totraums. In diesem imperfekten Metaversum lebt es sich gleichermaßen transparent und vernebelt.
Hut ab indes vor Clemens J. Setz, der nicht nur eine Digital Native im Ausnahmezustand erfunden hat, sondern eine Mutterfigur, die es glaubhaft schafft, sich ein Experiment anzueignen (und als existenziell zu verteidigen), das in der biologischen Evolution so vermutlich kaum vorgesehen war. Eisern bewirtschaftet Renate Interviews, Hassmails und Support-Posts: „Ihn einfach vergessen, wegwerfen, irgendwo verscharren? Bloß weil er nicht mehr weiß, wie und wo und was. Ich versteh es einfach nicht. Wie die Erde so funktionieren kann. Mein Sohn gehört nicht der Erde, er gehört uns.“
Mein Sohn gehört uns? Konrad, der Vater, wirkt in dieser Illusionsblase nicht ganz so gefestigt. Sein Wille ist brüchig. Doch er fügt sich. Um nicht zu sagen: Er unterwirft sich. Einer starken Frau. Und einer gefährlichen Idee.
Stephan Reuter