Schauplatz eines Mysteriums


Diskurs

„Theater macht mir Angst“, sagt Clemens Setz ganz bestimmt und begründet damit, warum er von selbst nie auf die Idee gekommen wäre, ein Stück zu schreiben. Die Atmosphäre rund um die Bühne gefällt ihm nicht, er sitzt nicht gerne zwischen fremden Menschen und fühlt sich eingeengt. Warum er nicht lange auf eine Bühne oder Leinwand schauen kann, dafür aber stundenlang mit dem Lesen eines Buchs verbringt, kann er sich selbst nicht erklären. Diese Gefühle nennt der Autor seine persönliche „Schwachstelle“. Auf die Bühne kann er sich nicht fokussieren, auf eine Seite aber schon. Auf die Seite eines Romans, aber auch auf die Seite eines Stücks. Vor allem die Drehbücher von Terrence Malick beschreibt er als „Kraftspendeorte“, die ihm die nötige Inspiration zum Schreiben von Theatertexten liefern. Obwohl Setz diese nur auf Einladung anfertigt, geschieht die Umsetzung nicht leidenschaftslos: Es ist das Ausprobieren an der „ökonomischen Form“, der Kürze, den wegfallenden langen Beschreibungen, das ihm Freude bereitet, wie er sagt. 

Und genau das beschreibt den Charakter seines Stücks, dessen Dialoge sich lesen wie die eines Romans. „Das ist kein Zufall“, bestätigt Setz. Denn erzählende Prosa ist schließlich seine Hauptausdrucksweise. Wechselt er von Prosa zum Drama, achtet er besonders darauf, sich trotz des Gattungswechsels treu zu bleiben. Seine Dialoge sollen nicht nach einem plötzlichen Schlagabtausch klingen, der nur der Pointe dient, sondern so real sein wie möglich. Unter anderem geschieht dies über Fundstücke aus dem Alltag: dem Gespräch unter Nachbar*innen oder Konversationen in Arztpraxen – besonders falsch verwendete Wörter verarbeitet Setz viel in seinem Text. Nur einer seiner Wege, um Poesie zu bauen. 

Der Wechsel von Prosa zu Drama macht Clemens Setz also nicht viel aus. Auch wenn er sich in seinen experimentellen Romanen freier und gelenkiger fühlt, ändert sich im Schreibprozess eines Dramentextes nicht viel. Er schreibt am Laptop oder per Hand in Notizbücher und Hefte. Dabei ist er wahrscheinlich der Einzige, der seine Privatschrift lesen kann: „Ich schreib‘ nur winzig kleine Blockbuchstaben. Ich hab‘ die einfach viel lieber.“ Genauso wie beim Schreiben einer Novelle fügt er die gesamte Handlung aus einzelnen Szenen zusammen, nur die Übergänge müssen beim Drama für ihn weniger klar sein. Das ist es wohl, was sein Stück zu einer verkleideten Kurzgeschichte macht. Clemens Setz will nun mal kein Method-Acting betreiben, nur weil sich die Form des Inhalts ändert. Er macht alles wie gewohnt – mit Anfang, Wendepunkt und Ende.

Ein Autor hat im Theater nichts zu suchen, meint Setz. Das gilt für den Autor sowohl als Zuschauer wie auch bei der Produktion. „Den Text auf der Bühne umzusetzen ist das Werk der Regie und nicht von mir“, sagt er. Deshalb ist es für ihn kein Problem, wenn Passagen weggelassen werden: „Es wäre auch okay, wenn sie 80 Prozent neu schreiben, nur dann muss man halt einen anderen Namen drüber schreiben.“ Die Rückversicherungstradition im Theater empfindet der Autor als bedauerlich. Ruft ein Regisseur an, um sein Einverständnis für Kürzungen einzuholen, ist das ein Akt der Höflichkeit. Zuschauende haben schließlich auch kein Mitspracherecht, wenn sie eine Szene nochmal sehen wollen.

Früher schrieb Setz über Sachen, die er interessant fand und selbst gern erleben wollte – und erlebte sie dann als Fiktion. Bei seinem neusten Stück ist das anders, besonders da er gerade Vater geworden ist. Viel mehr sind es jetzt die Ängste, die ihn zum Schreiben bewegen. „Die Sonne neigt sich in den Nachmittag“, begründet er die Themenauswahl mit seinem Alter. Das Stück „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ schrieb er jedoch noch vor der Geburt seiner Tochter. Eine ähnliche Version existiert bereits als Kurzgeschichte in seinem Buch „Der Trost runder Dinge“. Der hohe Dialog-Anteil brachte ihn auf die Idee für eine szenische Umsetzung. Was den genauen Ausschlag dazu gab, kann er nicht sagen – „es fühlte sich einfach richtig an.“ 

Wenn Renate für die Steuerung ihres verstorbenen Kindes bedroht, bewundert und gefeiert wird, ist sie lächerlich und menschlich, mutig und feige zugleich. Für Setz wird die Hauptfigur so zum Schauplatz eines Mysteriums, seiner Lieblingsthematik. Das macht ihre Figur zum Geheimnis, das man nicht lüften kann – und er ist derjenige, der das Geheimnis baut. Denn dass es nicht David ist, der tatsächlich aus dem iPad spricht, wird in der Umsetzung schnell deutlich.

Den Titel wählte Setz aus einem einfachen Grund: damit er noch während des Lesens und Zusehens im Gedächtnis bleibt. Er mag es, Titel zu wählen, die sich nicht sofort erschließen, die ein Leben haben, weil sie nicht bloß einen Inhalt zusammenfassen. „Ich neige dazu, Werke nach einem besonders seltsamen Detail zu benennen.“ Hier ist es ein Ausschnitt aus einem Ehegespräch. Ein Moment, der nicht handlungstragend, sondern alltäglich ist: die Nennung einer Beobachtung, die für einen selbst wichtig, für einen anderen vielleicht aber unbedeutend ist. Wie passend, dass Clemens Setz zum Ende des Gesprächs aus dem Zug bemerkt: „Lustig, ich fahre gerade wo vorbei, wo Waldrebe überkocht an einem Zaun.“ Für Unbeteiligte wahrscheinlich irrelevant, im Kontext des Stücks aber macht es nachdenklich. Das ist es, was Theater bewirken kann.