Ein Stück wie eine Pyjamaparty


Diskurs

Zum großen Finale der Woche voller vielfältiger, aufregender KinderStücke fand die Jurydebatte im Foyer des Theater an der Ruhr statt, bei der erstmalig der Preis für das Gewinnerstück aus einer Patt-Situation heraus durch ein Punktesystem errechnet und an Roland Schimmelpfennig mit „Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ vergeben wurde. Der Weg dorthin war gepflastert mit Meinungen, Grundsatzfragen und dem ein oder anderen Moment des Unbehagens. 

Aber zurück zum Anfang. Da verkündet zunächst die Jugend-Jury ihren Gewinner: Fabienne Dürs „Luft nach oben“, ein Stück, das die Jugend-Jury beeindruckt, weil es kein unbekanntes Thema ist, dieses Gefühl fliehen zu müssen, aus der realen Welt mit all ihren realen Problemen und Verantwortungen. Es geht ihnen nah, und damit sind sie sicherlich nicht die einzigen im Raum, was wohl nicht zuletzt der Grund ist, warum das Stück auch in den Diskussionen der Erwachsenen-Jury bis zum Schluss hoch im Kurs steht. Doch deren dotierten Preis kann es am Ende nicht einholen, dafür sind seine Gegner zu stark. Nichtsdestotrotz darf es eine Ehre für Fabienne Dür sein, von der Jugend-Jury ausgewählt worden zu sein. Schließlich wurde ihr Stück von der Jury gekürt, die nicht nur nah an der Thematik des Textes, sondern auch am Zielpublikum dran ist. Eine Qualifikation, die die Erwachsenen-Jury nicht bieten kann. Darüber ist sich diese aber auch bewusst, immerhin geben sie alle zu, nicht allzu tief in der Kindertheater-Szene verwurzelt zu sein. Die Erwachsenen, das sind in diesem Jahr Kulturjournalist Christoph Ohrem, Regisseur Bonn Park und Regisseurin und Schauspiel-Professorin Dora Schneider, die bereits im Auswahlgremium für die KinderStücke saß. Diese drei sollen nun in drei Diskussionsrunden, moderiert von Cornelia Fiedler, das Gewinner-KinderStück ermitteln. 

Von einer Diskussion lässt sich hier zu Beginn allerdings kaum sprechen. Vielmehr handelt es sich um ein sehr gesittetes, teilweise sogar unsicher scheinendes Gespräch. Erst die Beobachtung, dass sich alle Stücke einer ähnlichen Thematik nähern, eröffnet den Diskussionsraum. Jedes Stück für sich, so unterschiedlich sie in ihrer Inszenierung auch sein mögen, behandelt eine Geschichte über Figuren, die an einem Ort sind, aber lieber an einem anderen Ort sein möchten. Während die einen hoch hinaus ins weite Weltall wollen, malen sich die anderen eine Geschichte über die Welt tief unten auf dem Meeresgrund aus. Es gibt Figuren, die suchen den Ort, an dem alle Wünsche in Erfüllung gehen, dann gibt es welche, die sich in eine digitale Welt flüchten, und wieder Geschichten, die sich abspielen, weil eigentlich niemand irgendwo ist und im Nichts alles passiert. 

Mut zur Stille

Am Ende der ersten Runde muss die Jury entscheiden, von welchen zwei Stücken sie sich verabschieden will. Schnell und auch hier ohne große Diskussion wird man sich einig, sich schweren Herzens von Anah Filous „kirschrotGALAXIE“ zu trennen, von einem Stück, das zwar viel Sprachwitz und Magie auf der Bühne erzeugen konnte, in den Augen der Jury allerdings doch zu wenig Kontext bietet, insbesondere für Kinder, und dabei auch noch zu vorhersehbar ist. Schwerer fällt die Entscheidung beim zweiten Stück, denn während Bonn Park und Christoph Ohrem übereinstimmen, dass die Debatte auch ohne Ulrich Hubs „Lahme Ente, Blindes Huhn“ weitergehen könne, möchte Dora Schneider lieber den Jugend-Jury-Favoriten „Luft nach oben“ gehen lassen. 

Übrig bleiben schließlich nach Mehrheitsentscheid noch drei Stücke: „Der Hase in der Vase“, das Ohrem, der sich im Laufe der Debatte als bekennender Fan der Band Tocotronic outet, mit einem passenden Zitat schön zusammenfasst: „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Mit genau dieser Einstellung gelinge es Dramatiker und Regisseur Marc Becker, Zuschauer*innen jeden Alters zu begeistern. Mit dabei ist auch „Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau“, von Park dargestellt als ein Stück, in dem man eine Pyjamaparty feiert und sich die wildesten Geschichten ausdenkt, die auch mal in eine mystische dunkle Richtung gehen können. Und schließlich „Luft nach oben“, ein Stück, das ein Videospiel zum dreidimensionalen Erfahrungsraum macht und die Figuren diesen nutzen lässt, um auch im realen Leben neue Wege zu entdecken. 

In der zweiten Runde sollen diese drei Stücke strenger bewertet werden, um so einen Gewinner herauszufiltern. Ganz so einfach lief es allerdings in der diesjährigen Debatte nicht. Schnell sind weitere Argumente gefunden, die für die jeweiligen Stücke sprechen, und sie sind auch immer gut. Der „Hase in der Vase“ punktet mit dem Mut, die Stille zu nutzen (Dora Schneider), „Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ zwinge keine Spiegel-Online-Tauglichkeit auf (Bonn Park) und „Luft nach oben“ spiele mit dem jungen Publikum auf einer Augenhöhe (Dora Schneider). Aber neben all den positiven Bewertungen fällt doch eine Abwesenheit von jeglichen Contra-Argumenten auf. Auch in diesem Sinne ist es eine eher verhaltene Debatte.

Tocotronic-Song für Grundschüler 

Ein Gewinner lässt sich am Ende dieser Runde nicht festmachen und so zeichnet sich in der finalen dritten Runde schließlich die bereits erwähnte Patt-Situation ab, die sowohl Jury als auch das Umfeld erstmal ratlos erscheinen lassen. Bonn Park spricht sich für „Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ aus, Dora Schneider stimmt mit „Der Hase in der Vase“ für absurdes Theater, das bewegt und Christoph Ohrem findet seinen Favoriten „Luft nach oben“ so persönlich und emotional wie einen „Tocotronic-Song für Grundschüler“.

Dass es Maßnahmen gibt für solche Situationen, ist klar, doch gerechnet hat damit wohl trotzdem niemand so richtig. Vielleicht ist die Unbekanntheit eines solchen Szenarios im Rahmen der Jurydebatte um den KinderStückePreis der Grund für die plötzlich sehr gedrückte Stimmung im Raum. Vielleicht ist es auch das verloren gegangene Momentum durch eine kurze Pause für die Punktevergabe und kleine Kopfrechnungen. Oder ist es am Ende doch die allgemeine Unzufriedenheit über die gefallene Entscheidung? 

Eine konkrete Ursache lässt sich für den Stimmungswandel nicht mehr finden, aber als sich die Menge auflöst, sich Grüppchen bilden, Menschen essen und trinken und ihre eigenen Gespräche führen, scheint auch schon wieder alles vergessen. Und wenn nicht, hätte Christoph Ohrem wahrscheinlich den passenden Tocotronic-Song, um die Situation aufzulockern.