Das Ringen mit der Wahrheit


Kritik

Ein Teddybär sitzt auf einer rostig grünen Parkbank, eine weiße Marienstatue baumelt gegenüber einer Geige von der Decke. Ein großer roter Sessel steht inmitten der Bühne, umgeben von einem offenen Nutellaglas, Kreide und Malpapier. Grelle Leuchtröhren an den dunklen Wänden fangen den Blick ein. 

Protagonistin Eva erfährt in ihrer Kindheit physische und emotionale Misshandlung, zeigt sich früh verhaltensauffällig. Doch statt Fürsorge und Zuwendung erhält sie nur die Ablehnung und Scham ihrer Eltern. Die Hilfe, die sie damals gebraucht hätte, kann sie jetzt als Erwachsene nicht mehr annehmen. Zwar gibt sie vor, eine Kindergartengruppe erschossen zu haben, um in eine Klinik eingewiesen zu werden. Doch ihr Ziel ist nicht die Hilfe der Ärzt*innen, sondern die Möglichkeit, ihren Bruder Bernhard dort zu finden. Der ist wegen jahrelanger Magersucht in Behandlung, will mit seiner Schwester jedoch nichts zu tun haben. Zurückliegende Familienstreits halten die beiden auseinander. Eva aber ist fest entschlossen, ihren Bruder zurückzugewinnen. 

Der Einzige, der Eva wirklich zuhört, ist ihr Psychiater. Bei dem weiß sie, was sie erzählen muss, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Geschichten über Suizidgedanken oder Kindheitstraumata kommen immer gut an, lassen den Psychiater wachsam werden. Oder ist das Eva doch alles wirklich passiert? Fragen, auf die wir keine Antwort erhalten. 

In der Inszenierung vom Schauspiel Hannover ziehen Sarah Dragović und Viktoria Miknevich uns mit ihrem Spiel hinein in den Kopf der Figur Eva Gruber, verkörpern die Protagonistin selbst und ihre innere Stimme. Das berührt und wühlt auf. Als Eva sich eine Zigarette anzündet, durchzieht der Nikotingeruch den Raum und erinnert an ihre Erzählungen über die permanente Abwesenheit des Vaters und seine trotzdem-Präsenz durch den überall haftenden Nikotingeruch seiner Zigaretten.

Auf der Bühne werden die Identitäten nach kurzer Zeit verworfen und neue Rollen eingeführt. Ein Vorgang, der an die Gedankenströme in Evas Kopf erinnert. Das Bühnenbild (Florence Schreiber, Vanessa Maria Sgarra) und die Kostüme (Sarah Meischein) ergänzen das geschickt und lassen den Text nicht in den Hintergrund geraten: Die Leuchtröhren grenzen nicht nur die Bühne ein, sondern auch die Geschichte und fungieren als Rahmen der eigenen Gedanken. Eine Parkbank wird zur Reliquie der Kindheit oder zur Chaiselongue im Therapieraum. 

Die Regisseurin Hannah Gehmacher und die Dramaturginnen Annika Henrich und Johanna Vater erschaffen ein Spiel, ein Auf und Ab, Hin und Her, dass der Psyche der Hauptfigur ähnelt. Dabei ist der Text nahezu identisch mit der gleichnamigen Buchvorlage von Angela Lehner. Tränen, die der Protagonistin nur im Kopf kommen, laufen den Spielerinnen hier wirklich die Wangen hinunter. Die Inszenierung der Figur Eva als breitgefächerte gespaltene Persönlichkeit, aufgeteilt auf zwei Schauspielerinnen, fügt sich nahtlos in den Wirrwarr ihrer Gedanken ein: Sie zeigt die Vermischung von Lüge und Wahrheit, sodass am Ende nicht mehr zu sagen ist, was Wirklichkeit und Fantasie ist. 

Fragen über Fragen bleiben zurück, Antworten bleiben aus. Mitleid und Wut, Lüge und Wahrheit, alles gerät durcheinander. Bereits nach kürzester Zeit ist nicht mehr klar, mit wem man sich eigentlich identifizieren soll. Die großen Tabuthemen Therapie und Psychiatrie werden schonungslos und direkt aufgegriffen, ungefiltert werden die Gedanken eines vermeintlich kranken Menschen wiedergegeben und dadurch subtile Kritik geübt am Umgang mit psychischen Krankheiten in unserer Gesellschaft. Durch die stereotype Darstellung eines Klinikalltags, der sich primär innerhalb der Psychiatriemauern abspielt, werden die Scham und das Stigma betont, die das Thema Therapie und die Beschäftigung mit der eigenen Psyche umgibt. 

Das Verstecken menschlicher Schwächen und die Ablehnung von Hilfe sind unserer Gesellschaft nicht fremd. Wie auch Eva und ihr Bruder außerhalb der Psychiatrie verloren und ausgestoßen sind, so werden auch Menschen, die auf die professionelle Hilfe anderer angewiesen sind, oft abgelehnt und ausgegrenzt. Begibt man sich in Therapie, muss das geheim bleiben, darf nicht nach außen dringen. Mit ihrem Roman zeigt Angela Lehner die Gefahren dieses Versteckspiels auf. Es stellt sich die Frage, wer eigentlich das Problem hat, die Patient*innen oder die Welt außerhalb. Zu Beginn stand Eva nackt vor den Pfleger*innen, die sie in die Psychiatrie aufnehmen. Am Ende werden wir nackt in den Abend entlassen.