Bis zum ultimativen Extrem


Gespräch

Clemens J. Setz illustriert in seinem Stück „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ eine Extremsituation. Ein Junge stirbt. Die Eltern bestreiten seinen Tod. Er lebt als Tablet in einem Rollstuhl weiter. Setz lieferte das Auftragsstück ‚überpünktlich‘, berichtet Dramaturg Ingoh Brux beim Publikumsgespräch im Kammermusiksaal der Mülheimer Stadthalle. Ein Thema hatte das Schauspiel Stuttgart nicht vorgegeben. Das Ergebnis war eine klassisch Setzsche Wundertüte. „Ist das überhaupt tragfähig? Wie soll das theatralisch umgesetzt werden?“, fragte sich das Dramaturg*innen-Team.

Und wie findet man das Bühnenbild für einen so „schnipselhaften“ Text? Das sei nicht einfach gewesen, erklärt Regisseur Nick Hartnagel stellvertretend für Bühnenbildnerin Yassu Yabara. Also gleichzeitig die Elemente des Kammerspiels und die der digitalen Welt im Raum abzubilden. Das Publikum in Mülheim ist sich trotzdem fast einig, dass Bühnenbild und Kostüme „beeindruckend“ sind – wenn auch teils überraschend altbacken. Aber es sei auch nicht leicht, die Ultramodernen im Theater darzustellen, so Schauspieler Elias Krischke. Ein wenig 70er-Jahre-Flair sei da schon beabsichtigt gewesen. Immerhin sei das auch bei digitalen Nomaden von heute üblich: Sie verdienten ihr Geld, indem sie konstant Content von ihren Laptops ins Web hochladen. Gleichzeitig wohnten sie in verrosteten VW-Bussen oder hätten gehäkeltes Makramee an der Wand hängen, vor der sie sich für Youtube filmten.

Ambivalenz und Rätsel 

Auch Setz gehe es um Ambivalenz. Ob der Vater den Stecker des Tablets zieht, das seinen Sohn David verkörpert, oder nicht, könne man sich als Theaterbesucher*in selbst aussuchen, meint Gábor Biedermann, der den Vater darstellt. Das Stück spielt mit gefühlten Wahrheiten, warum also nicht auch dem Publikum die Macht geben, für sich zu entscheiden. Außerdem habe die Regie versucht, „den Abend mit Rätseln aufzuladen“. Da gibt es zum Beispiel den befremdlichen Auftritt von Lasse Pirkner als tanzendes Kind im Pyjama zum Schluss der Aufführung. Die Widersprüchlichkeit und das Nebeneinander von Trauer und Spott auf der Bühne zu verkörpern, sei jedoch schön zu spielen gewesen. Da sind sich Biedermann und Therese Dörr einig.

Dörr, die Mutter Renate spielt, erklärte: „Das Ausmaß des Verlusts macht die Lüge der Mutter unangreifbar“. Unsere Gesellschaft komme ja damit klar, dass „komplett Unwissenschaftliches“ behauptet wird. So auch bei Setz. „Ob ein Kind für immer tot ist, entscheiden die Eltern“, meint Reporterin Ulrike im Stück. Und stellt es dar, als seien alle, die das nicht glaubten, Unmenschen.

Hilflos, aber mächtig

Zwar ist Renate hilflos gegenüber dem Fakt, dass ihr Kind tot ist. Aber im Netz ist das existent, was als solches wahrgenommen wird, so Nick Hartnagel. Genau das sei Renates Glück. Je schlimmer die feindseligen Reaktionen gegen sie und ihre Inszenierung des ‚lebendigen‘ Sohns, desto mehr spürt sie sich.

Setz habe eine bewundernswerte Lust, herauszufiltern, wie die einzelnen Figuren sprechen, so Regisseur Hartnagel. Wie unterscheidet sich Renates Sprache von der des Youtubers TimFeels? Die Ambivalenz der Öffentlichkeit im Netz werde hier vorgeführt. Setz spielt diese Welt mit ihren eigenen Gesetzen wertfrei bis zum ultimativen Extrem durch. Es gehe nicht um das Ausgeliefertsein – dem Tod, der Presse und den Inhalten des Internets gegenüber. Entscheidend sei die Doppeldeutigkeit des Sprechens im Internet, bei der es oft nicht um die vertretene Meinung, sondern vielmehr um die Inszenierung der eigenen Person gehe.

Wichtig sei hier die Macht der Phantasie und der lustvolle Umgang der Figur Renate mit genau dieser Macht, aus ihrer unangreifbaren Position des Verletztseins heraus. Und im Kleinen, vielleicht gar Heimlichen, gehe es um die Liebesgeschichte zwischen Renate und Konrad, die durch den Tod ihres Sohnes auf eine Probe gestellt wird.