Wir haben uns entschieden


Diskurs

Bevor heute Abend die offizielle Preisjury der „Stücke“ tagt und den Mülheimer Dramatikpreis 2022 vergibt, haben die Blogger*innen ihre Stimme abgegeben. Vier der sieben eingeladenen Stücke wurden genannt, dabei ausschließlich Autorinnen und eine von ihnen gleich dreimal. Hier sind die Blog-Favoritinnen:

 

Celine Kaddatz: Teresa Dopler mit „Monte Rosa“
Was antwortet man auf die Frage, welches Stück man am besten findet, wenn alle so unterschiedlich sind? Sind sie überhaupt zu vergleichen? Anhand welcher Kriterien entscheide ich das? Ich bin wirklich froh, nicht in der Jury sitzen zu müssen, wenn ich doch schon mit meiner eigenen inneren Jury nicht klarkomme. Mir kreisen „Jeeps“, „White Passing“ und „Monte Rosa“ im Kopf herum. Welches Stück hat mich am meisten berührt oder zum Lachen gebracht, welches schwirrt noch immer in meinem Kopf herum, welches Thema sollte in die Welt hinausgetragen werden, welcher Schreibstil hat mich beim Lesen in den Bann gezogen? Letztendlich habe ich meine Entscheidung daran festgemacht, wie ich mich nach dem Lesen des Stückes gefühlt habe, was meine Reaktion auf den Stoff war und die Gefühle, die durch die Wörter ausgelöst wurden. Nachdenken, lachen, fremdschämen, nachvollziehen, unbehaglich fühlen, identifizieren: „Monte Rosa“. Teresa Dopler hat es geschafft mich mit einem Stück zu überzeugen, indem sich drei Menschen übers Bergsteigen unterhalten. Allein das finde ich witzig. Sie sagen nichts und gleichzeitig so viel. A, B und C haben mich mehr berührt als manch vielseitig interessiertes und lebensfrohes D – mit Namen. Nicht die Bergtour, der Dialog wurde zum Erlebnis.

 

Mariam Nazaryan: Teresa Dopler mit „Monte Rosa“
„Monte Rosa“ ist so vieles. Gefühlskalte Figuren auf der Suche nach Nähe, pointierte Sprache mit Interpretationsreichtum, eine Dystopie, die bereits vorhanden ist. Der Humor ist on point, nämlich immer unpassend. Nicht in übergriffiger Weise, sondern in seiner unbeholfenen Richtungslosigkeit, mit der er uns einen Spiegel vorhält.

 

Elena Nern: Nora Abdel-Maksoud mit „Jeeps”
Das Stück „Jeeps“ von Nora Abdel-Maksoud überzeugt mit gesellschaftskritischer Tragikomik und intelligentem Humor. Dabei zeigt sie ein Gespür für den richtigen Augenblick: Nicht nur für einen gut platzierten Witz, sondern auch für den Zeitpunkt, an dem eine neue Information ins Spiel gebracht wird. Im ständigen Wechsel, nacherzählend und vorspielend, setzen die Figuren ein großes Ganzes aus Fragmenten und Puzzleteilen zusammen, die mal bizarr, mal bitterböse, aber immer irgendwie bekannt erscheinen. Die wohl größte Leistung des Stücks liegt aber darin, zu zeigen, dass Menschen komplex sind und damit nun mal auch ihre Probleme. So werden durch Schnipsel von Vorgeschichten die Sympathien der Zuschauer*innen für die vier unterschiedlichen Charaktere immer wieder umgeworfen und neu verteilt, jedes Mal mit dem Gefühl, diesen Menschen jetzt erst zu verstehen.

 

Svenja Plannerer: Sarah Kilter mit „White Passing“
Ich muss mich zwischen „Jeeps“ von Nora Abdel-Maksoud und „White Passing“ von Sarah Kilter entscheiden. Beide Texte sind witzig, lebendig und behandeln drängende Themen: ersteres Klassismus, zweiteres Rassismus. Beide sind am Puls der Zeit. Allein beim Lesen muss ich allerdings gestehen, dass mich Sarah Kilters Text mehr begeistern konnte. Er bietet durch seine Aufteilung mehr Abwechslung und stellt die Hypokrisie im angeblich so offenen, aufgeklärten Deutschland aufs Schärfste aus.

 

Simone Saftig: Nora Abdel-Maksoud mit „Jeeps”
Meine Wahl fällt auf Nora Abdel-Maksouds „Jeeps“, weil der Text eine sehr gelungene Kombination aus origineller Idee und schriftstellerischem Handwerk ist. Relevante gesellschaftliche Themen so aufzuarbeiten, dass man (auch über sich selbst) lachen kann, ist eine Kunst, die honoriert werden und ihren festen Platz auf Theaterbühnen finden sollte. Schon beim Lesen hatte ich ganz klare Figuren im Kopf, die auf der Bühne glänzen konnten.

 

Marvin Wittiber: Helgard Haug mit „All right. Good night.”
In „All right. Good night.“ führt die Autorin zwei bewegende Geschichten über das Verschwinden – die beginnende Demenz ihres Vaters und das mysteriöse Verschwinden einer Passagiermaschine kurz nach ihrem Start – zusammen, die faktisch erst einmal nichts miteinander zu tun haben. Kongenial verwebt sie die beiden Erzählstränge auf poetische und berührende Weise zu einer großen Erzählung, die über das Verschwinden hinaus auch Fragen nach dem individuellen und kollektiven Vergessen stellt. Seine besondere Strahlkraft und Wirkungsmächtigkeit entfaltet der Text schließlich in der Uraufführungsinszenierung, wenn er fast vollständig zum Mitlesen auf einen Gazevorhang projiziert und nicht gesprochen wird: ein beispielloses Texterlebnis.

 

Lea Wunderlich: Nora Abdel-Maksoud mit „Jeeps”
Mit intelligentem Witz gestaltet Nora Abdel-Maksoud ein Gedankenspiel, das zum Nachdenken anregt. Sie spricht wichtige gesellschaftliche Themen an und setzt Impulse, ohne dabei die Leser*innen in eine bestimmte Richtung zu drängen. Das Stück ist eine Komödie, die ihren ernsten Kern trotz des humoristischen Blickes nicht verliert.