25. Mai 2022 •
In Akın Emanuel Şipals Stück "Mutter Vater Land" werden Momentaufnahmen einer Familiengeschichte von vier Generationen aufgerollt. Im Gespräch mit Mariam Nazaryan erzählt er von Triggerwörtern, emotionalen Argumenten, kulturellem Erbe und den Unschärfen der Zugehörigkeit.
Du bist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Wie war deine Kindheit hier?
Der Mikrokosmos, in dem ich aufgewachsen bin, ist eine sehr malerische Ecke von Gelsenkirchen in der Nähe des Stadtparks. Im Großen ist Gelsenkirchen schwierig, wenn man besonders kulturinteressiert ist oder sich nach einem urbanen Leben sehnt. Das Ruhrgebiet ist mein Zuhause. Das habe ich mir nicht ausgesucht, aber ich komme damit klar (lacht).
Hast du das Gefühl, so eine Art Wertungsfreiheit spiegelt sich auch in deinen Figuren wider, in deiner Art zu schreiben?
Man ist natürlich immer wertend. Und das ist mir bei den Figuren auch wichtig. Ich habe viele Meinungen, die oft im Widerstreit sind. Ich habe auch zu vielen Dingen keine klare Haltung. Und ich kann es genießen, aus verschiedenen Perspektiven auf Dinge zu blicken. Bei „Mutter Vater Land“ sind es verschiedene Realitäten, die in Deckung gebracht werden. Das sind Figuren, die sich immer mal wieder selbst widersprechen, und das, was gesagt wurde, aufheben. So stehen verschiedene Meinungen im Raum, vielleicht nicht zu 100 Prozent psychologisch konsistent mit den Figuren, aber die Unschärfe zwischen Emotion und Argument reizt mich. Da wird auch das dialogische Schreiben unterschätzt. Im Idealfall gibt es Argumente und Figuren, die Wünsche und Sehnsüchte haben, Konflikte.
Und Eskalation kann dann eine bestimmte Eigendynamik entwickeln. Konflikte sind Parasiten, sie ernähren sich von allem, was wir tun. Ich glaube nicht, dass sich die Konflikte lösen lassen, indem man eine klare Haltung bezieht und unveränderlich durch den Konflikt durchmarschiert. Im Stück wird permanent relativiert oder gefragt: Aber war das wirklich so? Selbst wenn ich im Recht bin, kann es sein, dass ich einer anderen Person Unrecht tue, indem ich nicht sehe, dass sie zum Beispiel keine Wahl hat oder einen schlechteren Startpunkt. Das, was im Kopf passiert, die Angst, sich zu blamieren, der Wunsch dazuzugehören. Das alles verändert das Argument sozusagen. Im Stück wird das konkret.
Im Stück werden Ansichten auch auf Generationen aufgeteilt. Jede geht anders mit der Migration der Familie um. Hast du da deine eigene Familie sprechen lassen oder sind diese unterschiedlichen Positionen in dir selbst vereint?
Das ist schon stark in mir selbst. Ich hab mich am Steinbruch der Familiengeschichte bedient, aber die Figuren sind keine Ebenbilder meiner Familienmitglieder. Es sind eher Positionen, die ich selbst nachvollziehen kann.
Wenn es keine direkte Familienchronik ist, in welchem Verhältnis steht das Stück zu deiner Biografie?
Es ist fließend. Ich spitze natürlich Konflikte zu, oder würze sie auf eine Art. Es ist ein autobiografisches Stück, aber nicht der Realität, sondern der Dynamik der Themen verpflichtet. Das sind verschiedene Ebenen der türkisch-deutschen Beziehungsgeschichte, die sich überlagern und die zusammen ein kraftvolles Thema ergeben, in dem viele Emotionen stecken. Was das Wort Türke triggert, das ist ein sehr deutsches Phänomen und hat nichts mit der Türkei zu tun. Man wird bei Aufträgen so oft gefragt: Kannst du was machen mit „türkisch“ und „Migration“? Und ich denke mir: Lasst mich damit in Ruhe. Das, was ich mache, hängt dann trotzdem damit zusammen, aber ganz anders, subversiver. Warum soll ich auch nicht darüber schreiben, wenn es mich beschäftigt? Aber ich mache es zu meinen Konditionen. Und so, dass es Potenzial zur Irritation hat und nicht nur zur Unterhaltung oder zum Bedienen einer Nachfrage, von der man glaubt, dass sie existiert.
Man will auch nicht in eine bestimmte Richtung der Repräsentation gepresst werden. Trotzdem habe ich mich über die Besetzung gewundert. Nur ein türkisch gelesener Name, Nihan Devecioglu.
Die Inszenierung spielt ja mit der Transparenz und Sichtbarkeit der Mittel, hat eine Art Werkstattcharakter. Aber es ist ein Problem, wenn keine Leute dabei sind, die das Thema irgendwie nachvollziehen können. Die irgendeine Form von Verständnis für den Schmerz aufbringen können. Wissen, Erfahrung, Nähe zu Menschen, die das erlebt haben. Und Nihan, Musikerin und Schauspielerin in dem Stück, kennt es aus einer anderen Perspektive, aber sie kennt das irgendwie. Auf der anderen Seite habe ich für mich immer gesagt: Es ist eine türkisch-deutsche Familiengeschichte. Für mich fühlt es sich also nicht falsch an, wenn es mit deutsch-deutschen Schauspielern besetzt ist. Bei mir ist es nicht so klar: Ich bin kein Migrant, ich bin hier geboren. Natürlich könnte man sagen, migrantisch-stämmig, aber wie weit geht das zurück? Und bin ich türkisch? Ja. Nicht, weil ich „stolz“ bin auf die Türkei, sondern weil es ein Teil von mir ist. Weil ich dazu stehen möchte. Und weil es mich etwas gekostet hat in meinem bisherigen Leben, das zu sein. Wofür du bezahlst, das gibst du nicht ab. Die Kommunikation über die Türkei ist hochemotional, daran kommt man nicht vorbei. Mich triggert das mittlerweile nicht mehr so, aber es lässt mich nicht kalt. Das ist meine eigene Unschärfe. Ich bin bestimmt deutsch, aber ich wünsche mir auch, türkisch zu sein. Auch wenn viele Türken in der Türkei wahrscheinlich sagen würden: Nee Alter, du bist total deutsch (lacht).
Identität wird dadurch komplexer zu fassen. Die Mutter in „Mutter Vater Land“ hat den (vergeblichen) Wunsch, auch in ihrer türkischen Identität verstanden zu werden, aber um diese Barriere zu überwinden, muss sie immer wieder erklären, was die türkische Kultur ausmacht. Und im Endeffekt wollen ja alle verstanden werden.
Bei der Mutter ist das so, aber ich würde sagen, bei dem Alter Ego nicht. Das ist ja eine andere Perspektive, der wächst hier auf. Er fühlt sich zugehörig, hat aber ein Problem mit der Infragestellung seiner Zugehörigkeit. Der hat nicht das Gefühl, dass er nicht hierhin gehört, er ist eher empört. Das ist doch mein Königreich!
Dieses Gefühl wird einem auch im Theater vermittelt. Es äußert sich etwa darin, dass ins Theater geht, wer dort repräsentiert wird.
Mit Sicherheit. Das Theater in Deutschland ist toll, ein kulturelles Erbe, aber natürlich auch Distinktionsmaschine. Wer ins Theater geht, sagt halt: Ich geh ins Theater. Kunst ist immer mehr, aber es ist auch Statussymbol. Man kann Theatergänge als Goldkette tragen.
Für wen ist dein Stück geschrieben?
Für Leute wie mich (lacht). Ich habe etwas gemacht, womit ich etwas anfangen kann. Weil es ein eigener Ton ist, weil es für mich selbst neu war, stimulierend. Man kann Theater machen, das verständlich ist, das nicht diesen Ton der Distinktion, der Überlegenheit, braucht: Wir haben euch durchschaut, wir zeigen dem Bildungsbürgertum, wo die Fehler liegen. Das tut das Stück auch, aber es ist zu emotional, um eine Analyse zu sein. Zu viele Gefühle (lacht).
Akın Emanuel Şipal, 1991 in Essen geboren, studierte Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Für sein erstes Theaterstück Vor Wien gewann er den bundesweiten Wettbewerb »In Zukunft« 2012, für Santa Monica erhielt er den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde Hamburg. Şipal ist als Drehbuchautor an diversen Kurz- und Langfilmen beteiligt, die auf Festivals wie Festival des Films du Monde de Montréal (Prix du Jury für The Bicycle), Shanghai International Film Festival oder Cairo International Film Festival zu sehen sind. In der Spielzeit 2016/17 war Şipal Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Von 2017-2019 war er Hausautor am Theater Bremen.