+++ Die 50. Mülheimer Theatertage finden vom 10. – 31. Mai 2025 statt. +++

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Gespräch

Natürlich startet das Publikumsgespräch zum Stück „Mutter Vater Land“ von Akın Emanuel Şipal mit zunächst erwartbaren Fragen zu Text und Inszenierung: Wie ergab sich die Aufteilung des Alter Ego auf drei Personen? – Aus der Teilung der Herkunftsländer auf Vater und Mutter sowie deren Kombination. Woher kommt der Titel? – Er ist inspiriert vom Bildband der bildenden Künstlerin Tracey Emin, das zwei Kapitel namens Mother Land und Father Land enthält. Dürfen denn deutsch-deutsche Darsteller*innen überhaupt deutsch-türkische oder türkische Charaktere spielen? – Der Autor begrüßt natürlich eine Besetzung, die nach Möglichkeit der Rolle entspricht, aber ja, sie dürfen das. Er selbst sei ja auch Deutscher.

Als die Diskussion für das Publikum geöffnet wird, meldet sich eine Dame, die die gesangliche Leistung von Nihan Devecioglu lobt. Ihr Gesang habe für sie eine emotionale Verbindung zu Sehnsucht hergestellt. Sie habe sich viel mit Matriarchatsforschung beschäftigt und meint, in der Abschlussszene, in der die Sängerin auf dem Rücken auf einer Bank liegt und leise singt, eine Art Geburtsszene erkannt zu haben. Devecioglu findet dies eine schöne Interpretation, für sie als Darstellerin symbolisiere die Szene aber das Finden eines inneren Friedens. Sie stelle sich vor, sie lasse ihr ganzes Leben Revue passieren, während sie auf der Bank liegt.

Wenig später meldet sich die Dame erneut, um Regisseur Frank Abt nach der räumlichen Anordnung der Darsteller*innen zu fragen. Ob wohl die systemische Familienaufstellung dabei eine Rolle gespielt habe? Bei dieser Technik des Coachings und der (Familien-)Therapie werden Figuren in bestimmten Abständen oder auch mit Höhenunterschieden aufgestellt, um die Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen oder Familienmitgliedern darzustellen. Es ist keine abwegige Überlegung, allerdings nutzen viele Inszenierungen Distanzen und Höhen als Mittel, um die Beziehungen zwischen Charakteren darzustellen und ihren Status zu unterstreichen, ohne therapeutischen Bezug. Entsprechend fällt Abts Antwort aus: Es ist einfach Teil des Arbeitsprozesses. Schauspielerin Lisa Guth meldet sich zu Wort: Auch die zum Zeitpunkt der Proben geltenden Corona-Regeln hätten darauf Einfluss genommen, wie nah sie sich kommen konnten. Dies habe der Inszenierung letztlich gutgetan und sich stark auf die Spannungen ausgewirkt, mit denen sich die Charaktere gegenseitig umkreisen und mit denen sie miteinander ringen.  

Ein Herr meldet sich, um seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen: der Text sei ihm nicht politisch genug, beziehe zu wenig Stellung zur heutigen Türkei. Er bittet um eine Erklärung des Begriffs „türkischer Universalismus“, der in der Form im Stück nicht fällt. Daraus entsteht ein Streitgespräch, das in diesem Kommentar näher diskutiert wird. 

Ein weißhaariger Herr zeigt sich „berührt“, „nachdenklich“ und „erschüttert“. Er habe viel über die Türkei gelernt – auch wenn Şipal im Gespräch zuvor bereits erwähnt hat, dass sein Stück im Kern kein Stück über die Türkei sei, sondern über Deutschland und dessen Wahrnehmung der Türkei – und sei daran erinnert worden, wie schön es sei, ein Gefühl von Heimat zu haben. Eine Ähnlichkeit zur „Unschärfe“ des Alter Ego weist seine Biographie aber nicht auf, auch wenn er nach eigener Aussage Sohn von Geflüchteten sei – für ihn gäbe es eine klare Heimat: das Ruhrgebiet. Besonders erschüttert habe ihn die Wut und Brutalität des Alter Ego in einer Szene, in der die Figur als Jugendlicher mit gewaltvoller Sprache rappt. Gerade die jüngste Generation einer Migrationsfamilie müsse doch noch am ehesten ein Heimatgefühl haben, wenn sie in Deutschland geboren seien. Şipals Einwand, dass dieser Rap auch einfach ein Ausdruck pubertärer Rebellion sein könnte, lehnt der Herr ab. Es müsse an der Art liegen, wie ältere Generationen mit ihm umgehen, er fühle sich womöglich nicht geliebt. Vor allem in elterlicher Liebe liege doch das Gefühl von Heimat; das Herkunftsland stehe an zweiter Stelle.

Es ist ein intensiverer Austausch als bei bisherigen Publikumsgesprächen. Allerdings scheint es, als sei Şipals Stück anders interpretiert worden als vom Autor vorgesehen - zumindest von denen, die sich in der Runde laut geäußert haben. Anstatt die Überlegung anzustoßen, wie oft Menschen auf ihre „Herkunft“ reduziert werden, wurde eine überpsychologisierte Sicht aktiviert und unbeabsichtigt urdeutsche Sentimentalität ausgelöst. Wie die matriarchatsforschende Dame selbst bemerkt: Alle schauen mit ihrem eigenen Filter auf das, was sie im Stück sehen.

Zumindest ein Kommentar ist für Şipal „aufbauend“, wie er sagt. Gerade hat er erklärt, seine Agenda beim Stückeschreiben sei nicht, etwas Weltverbesserndes zu schaffen, sondern zu zeigen, dass in Deutschland Vorurteile gegen türkische Kultur verankert sind wie Unkraut: Die ganze Identität werde darauf reduziert, für viele gehe die Idee von Bildung und Türkei nicht zusammen. Aber die Türkei sei nicht das schmuddelige Gegenteil des Landes der Dichter und Denker, sondern habe sein eigenes Bildungsbürgertum. Genau dieses wolle er sichtbar machen. Selbiger weißhaariger Herr, der bereits erwähnt wurde, findet, die emanzipatorischen Intentionen des Autors spiegelten sich in der Art, wie er über sein Stück spreche: Mit Wut und Energie. Das nimmt der Autor mit einem dankbaren Lächeln und Nicken an.