Hass und Avocadosocken


Diskurs

Im Laufe meiner Lesereise ist mir wieder einmal klar geworden, wie willkürlich die Welt eigentlich ist. Wie erstaunlich es ist, dass wir uns diese komplexe Umwelt über die Jahrtausende hinweg aufgebaut haben: Vom Jagen und Sammeln hin zu Excel-Sheets gespeichert auf ultraflachen Laptops mit HD-Bildschirmen. Wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert? Wie viele Zufälle mussten zusammenkommen, dass ich heute hier sitze und diese Worte tippe? Wie viele, dass jetzt zwölf PDF-Dateien mit Theaterstücken auf meiner Festplatte ruhen, die irgendwelche Menschen aus irgendwelchen Worten zusammengebastelt haben?

Erstaunlich auch, dass all die Worte, die wir benutzen, nur erfunden sind. Genauso wie all die Gründe, aus denen wir uns gegenseitig hassen. Darum, so finde ich, geht es in diesem Jahr besonders oft: Auszustellen, wie feindselig Menschen sich gegenüberstehen können, und wie nutzlos, wie schädlich Hass ist. Wäre es nicht schön, wenn wir bald einen Schalter erfinden könnten, der den Hass einfach ausknipst? Oder besser noch, wenn wir diesen Schalter überhaupt nicht bräuchten, weil wir erkennen, was Hass anrichtet? Ha! Das wäre eine verrückte Welt, was?

 

Lena Gorelik – Als die Welt rückwärts gehen lernte

Hier finde ich es fast schade, dass die Zuschauenden nicht gleichzeitig die Regieanweisungen mitlesen können, denn die malen die Szenerie wunderschön aus. Allerdings ist es natürlich die Aufgabe einer Inszenierung, die Regieanweisungen sichtbar zu machen (wenn sie sich denn dafür entscheidet, die Regieanweisungen zu berücksichtigen).

Alles steht Kopf in diesem Text, es geht bunt drunter und drüber. Weil Joshi die „Regel“ bricht und als Junge gerne Kleider trägt, und weil Mira Regeln generell ablehnt, spielt am nächsten Tag die Welt verrückt. Gegenstände und Haustiere entwickeln ein Eigenleben. Hunde führen Menschen Gassi. An der Bäckertheke bekommt man plötzlich Geld, anstatt welches zu bezahlen. Schule beginnt um Mitternacht. Und über allem steht die Message: Die Welt von gestern ist nicht mehr die Welt von heute. Jungs können Kleider tragen, und Lippenstift und Nagellack, wenn sie das möchten. Wer sich darüber aufregen will, bitteschön, aber es gibt auch Wichtigeres. Das Bienensterben, zum Beispiel.

Das Stück macht schon beim Lesen durch seine Verdrehungen des Altbekannten viel Spaß, und webt seine tiefere Aussage gekonnt ein.

Lieblingszitat: Wir machen uns unsere eigene Welt!

 

Akın Emanuel Şipal – Mutter Vater Land

Nach wenigen Seiten zeichne ich mir vorne in das Skript einen Stammbaum, um den Überblick zu behalten. Wer kommt woher, welcher Teil der Familie trägt welche Länder und welche Konflikte zur Geschichte des Alter Ego bei? Es entsteht ein Tauziehen, die Türkei vs. Deutschland, die miteinander auf keinen grünen Zweig kommen. Schmerzhaft, wie zwei so gegensätzliche Hintergründe sich im Alter Ego vereinen und doch nie zusammenfinden.

Der Text fließt über die Seiten wie aus einem Guss, und so liest er sich auch. Die entworfenen Charaktere sehe ich lebhaft vor mir, wie sich die Worte in ihre Gesichter graben und Falten hinterlassen. Manchmal muss ich zurückblättern, um mir ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Zeit die Geschichte gerade spielt.

Am Ende wünsche ich mir, dass Zu-Hause-Sein schon bald nichts mehr mit „Du kannst nicht beides sein“ zu tun hats. Dass man nicht gezwungen wird zu wählen, und dass alle da zu Hause sein können, wo sie möchten, so viele Heimaten im Herzen, wie sie wollen. Und dass jede Heimat als Heimat akzeptiert wird.

Lieblingszitat: Abertausende Deutsche surfen zur selben Zeit bei Google / welche Dokumente sie brauchen, um in der Türkei zu bleiben / und das obwohl TÜRKE immer noch ein Schimpfwort ist

 

Sarah Kilter – White Passing

In Deutschland sind alle, die was auf sich halten, woke und beschäftigen sich mit Rassismus, Sexismus, Ableismus und sämtlichen anderen -ismen und Diskriminierungsformen. Alle debattieren fleißig, wenn es aber um echte Hitlergrüße in der U-Bahn geht, steht niemand auf und sagt was. Große deutsche Klappe, nichts dahinter, so geht es direkt los.

Das Stück zu lesen macht Spaß, weil es so konkret und bildhaft ist. Ich sehe „Sie“ durch Berlin geistern, weg vom Schauspiel auf dem Savigny-Platz und zurück zu Bushido. In Berlin war ich bisher zwei Mal, und nie länger als für ein paar Stunden, aber ich kann es förmlich sehen, die Nacht voll mit Lichtern, Musik und Hipstern mit Fanny-Packs und Lidl-Logo- oder Avocado-Socken. Das Pärchen A & B, der Inbegriff des „Ich kann ja gar kein*e Rassist*in sein, weil…“ Ich seh sie da sitzen und möchte ihnen am liebsten eine runterhauen, wie sie sich auf typische „Old White Person-Art“ aus der Verantwortung rausargumentieren. Thomas, Jule und Max wären wahrscheinlich die schlimmsten Freund*innen, die man haben kann. Am besten gefällt mir aber „Deutschland in Spiegelstrichen“: ja, denke ich mir bei jedem Strich, ja, jajaja! 

Und jedes Mal, wenn sie erwähnt werden, bin ich so froh, dass ich keine Socken mit Lidl-Logo oder Avocados drauf trage. Ich bin zwar schon ein bisschen woke (versuche es zumindest), aber ich muss mich nicht schuldig fühlen, oder...? Na ja. Wann bin ich das letzte Mal wirklich aufgestanden und habe was gesagt?

Lieblingszitat: In Deutschland geht es mir so gut, wie in keinem anderen Land und trotzdem hätte es keinen besseren Ort geben können, um so gut Angst und Hass lernen zu können wie hier.