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Der Irrweg des Telemachos


Kritik

Frauenfiguren kommen in der antiken Dramenliteratur kategorisch zu kurz. Meist sind sie nur Beistellwerk, haben funktionalen Charakter oder werden mittels Gewalt, Ächtung, Verbannung oder Verleumdung zum Schweigen gebracht. Über diesen Umstand herrscht in der heutigen Zeit längst Einigkeit. Zeitgenössische Dramatik, Dramaturgie und Regie gehen mit diesem Umstand ganz individuell um, problematisieren diese Tatsache und lassen Frauenfiguren immer öfter aus dem Schatten der männlichen Helden ins Licht treten. Am Residenztheater München emanzipierten sich zuletzt beispielsweise in „Die Unerhörten“ (Regie: Elsa-Sophie Jach) große antike Frauenfiguren von den kanonisch gewordenen Versionen ihrer Erzählungen, die allesamt durch männliche Stimmen wie Ovid, Euripides und Aischylos geprägt sind. Hinzu kamen weitere Texte von Autor*innen mit dem richtigen Soundtrack: „technoide Liebesbriefe an antike Heldinnen“. Die sechs Frauen verschwestern sich in dieser Inszenierung und holen sich gemeinsam ihre Stimmen zurück. Darunter auch Penelope, die Königin von Ithaka, Ehefrau des Odysseus und Mutter des Telemachos.

Doch dass in der griechischen Mythologie auch die Kinder vernachlässigt werden, zeigt sich beispielsweise bei den Söhnen von Medea und Jason – von Euripides haben die beiden nicht einmal Namen bekommen. Und eben auch bei Telemachos – der Sohn und seine Mutter, die zum sehnsüchtigen Warten auf Odysseus verdammt sind.

Am belgischen AGORA Theater hat sich Autor und Regisseur Felix Ensslin gemeinsam mit Schauspielerin Ninon Perez und der Dramaturgin Galia De Backer der Geschichte des Telemachos angenommen und den Jungen auf eine eigene Reise geschickt – einen Irrweg zu sich selbst. In einem Monolog bekommt der Knabe eine Stimme und entdeckt seine eigene Identität, die sich nicht mehr nur daraus speist, dass er der Sohn eines antiken Helden ist.

Einziger Begleiter ist das Kostüm

Ensslin verortet das Geschehen in einem Klassenzimmer, dessen räumliche und zeitliche Grenzen sich nach und nach aufzulösen scheinen. Ausgangspunkt der Handlung ist, dass Telemachos ein Referat über Garnelen vor seinen Mitschüler*innen und der*dem Lehrer*in halten soll. Dabei taucht er im Laufe seines Vortrags mehr und mehr in die Abenteuer seines Vaters ein, der letztlich in einer eigenen Geschichtsschreibung mündet: Der Junge beschließt, nicht länger auf seinen Vater zu warten. Aber wenn er endlich heimkommt, will er ihn kennenlernen und sich ein eigenes Bild machen – das Bild eines Vaters und nicht das eines Helden.

Ensslin hat für die Uraufführungsinszenierung die Schauspielerin Ninon Perez in eine weiße rechteckige Spielfläche gestellt (Szenografie: Céline Leuchter). Ohne weitere Bühnenbildelemente, Requisiten, Lichtstimmungen und nur einer einmaligen musikalischen Sequenz kommt die Inszenierung sehr spärlich daher und vertraut ganz auf die Spielfähigkeit der Darstellerin und die Vorstellungskraft des Publikums. Einziger Begleiter ist das vielfältige Kostüm, anfangs ein grauer Einteiler, der mittels Reißverschlüsse und umklappbarer Schulterpolster die Darstellung weiterer Figuren unterstützt. Das wirkt jedoch äußerst unnatürlich und wahnsinnig funktional.

Besonders unterhaltsam wirkt die choreografische Körperarbeit der Darstellerin, die von der Garnele bis hin zum Familienhund spielerisch Szenen und Figuren zum Leben erwecken kann. Nichtsdestotrotz kommen einem die 45 Spielminuten äußerst zäh vor und die Aufmerksamkeit des schwerpunktmäßig jungen Publikums driftet zunehmend ab, weil alles und alle hier nur von Perez imaginiert werden. Und es stellt sich die Frage, ob sich der Geschichte auch folgen lässt, wenn man mit der Homerischen Erzählung der „Odyssee“ nicht vertraut ist.

Ensslin zeichnet mit „Die seltsame und unglaubliche Geschichte des Telemachos“ ein vielschichtiges Psychogramm einer Kinderfigur, der Homer in seiner Erzählung nicht viel Raum gibt und dichtet sie über das Original hinaus zeitgemäß weiter. Aber sein leuchtender Appell ist doch ein viel grundsätzlicherer: Macht heißt, in den Geschichten, die wir uns erzählen, vorzukommen, Protagonist*in zu sein. Aber die größte Macht liegt doch im Erzählen selbst.