17. Mai 2022 •
Weil immer auf dem Bauch zu liegen beim Lesen auf Dauer doch anstrengend wird, versuche ich es manchmal auch mit anderen Positionen. Darunter sind zum Beispiel…
1. Der Käfer I: auf dem Rücken, die Beine im 90-Grad-Winkel angezogen, Füße in der Luft, das Skript vors Gesicht halten. Macht es nur schwierig, umzublättern und Notizen zu machen. Außerdem werden die Arme schnell müde.
2. Der Käfer II: hinknien, und dann über die Knie nach vorne beugen, die Ellbogen auf dem Boden aufstützen. Das geht so lange gut, bis die Beine einschlafen.
3. Die Denkerin: auf der Bettkante sitzend, das Skript entweder auf den Knien oder auf dem Boden aufgeschlagen. Auch hier sind Notizen eher schwierig und der Kopf wird sehr schnell schwer, weshalb ich ihn aufstützen muss – daher der Name.
4. Die Bürokauffrau: am Schreibtisch sitzend, brav und gerade. Eignet sich natürlich besonders gut für Notizen, allerdings wird meinem Körper diese Position schnell langweilig.
Aber ganz egal in welcher Position, ob auf dem Boden, im Bett oder am Schreibtisch: es ist jedes Mal eine große Freude, ein neues Stück aufzuschlagen.
Milan Gather – Oma Monika – was war?
Das ist schwerer Stoff, der hier verarbeitet wird. Oma Monika ist an Demenz erkrankt, vergisst Worte, ihren Namen und erkennt manchmal ihren Enkel – der, wenn ich richtig gerechnet habe, gerade mal acht Jahre alt ist – nicht mehr. Sie haben miteinander Spaß, ihr Enkel macht mit, wenn das Erinnerungsvermögen seiner Oma verrücktspielt und kümmert sich um sie. Aber sie fahren sich auch gegenseitig an, die Situation wird irgendwann brenzlig. Große Erleichterung: Sie geht gut aus.
Eine sehr realistische Darstellung des Alltags mit einer dementen Person, die sich in den leicht verständlich geschriebenen Dialogen gut überträgt, und deshalb besonders beeindruckend ist. Der Text macht viel Lust auf die szenische Umsetzung.
Lieblingszitat: Ich will doch nur nicht…vergessen werden.
Raoul Biltgen – Zeugs
Ich habe schon lange, sehr lange kein Kindertheater mehr gesehen, geschweige denn Stücke für Kinder gelesen. Die Sätze sind beinahe schon erfrischend einfach, erinnern mich an die Zeiten, in denen ich noch mit Begeisterung „Bibi & Tina“-Kassetten gehört habe. Die zahlreichen „Bobby, der Bedeutende“, „Bobby, der Bravouröse“, „Bobby, der Blitzgescheite“ sind wahrscheinlich daran schuld.
Ich freue mich, wenn die Kinder, die dieses Stück sehen, hoffentlich dazu ermutigt werden, sich immer wieder neu zu entdecken. Und wenn sie sehen, dass sie die Suche nach sich selbst nicht allein schultern müssen – denn jemand zu sein ist ganz schön schwer. Da ist es gut, Unterstützung dabei zu haben.
Lieblingszitat: Ich finde Lamas auch gut, aber nicht, weil wer anderer sie gut findet, sondern weil ich sie gut finde.
Helgard Haug – All right. Good night.
Rein optisch ist dieser Stücktext vermutlich der seltsamste von allen nominierten: In zwei nebeneinander herlaufenden Tabellensträngen, unterbrochen von Timecodes und Taktangaben, wird die Geschichte des an Demenz erkrankten Vaters und die des verschwundenen Flugzeugs erzählt. Das Äußere tut der Erzählung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Für meine Augen ist diese Ordnung eine Wohltat.
Der Text mäandert nahtlos von der einen Erzählung in die andere, und auch wenn schnell klar ist, wie die Geschichten ausgehen werden, bleibt die Hoffnung doch stur bis zum Schluss. Es tauchen immer wieder Bruchstücke von Erinnerungen und Trümmer der Boeing 777 auf, die es unmöglich machen, nicht zu hoffen. Denn man weiß: Da unter der Oberfläche ist immer noch eine Person, liegt die Antwort auf die Tragödie. Wenn man sie nur einfach finden und aus der Versenkung heben könnte.
Im Rahmen meines Psychologiestudiums habe ich mich viel mit kognitiven Einschränkungen, allen voran Demenz, beschäftigt. Als studentische Hilfskraft habe ich mit schwer demenzkranken Menschen gearbeitet, was manchmal eine erfreuliche, manchmal eine erschütternde, aber immer eine eindrückliche Erfahrung war. Die Erinnerungen an diese Zeit werden wieder wach – ich habe meine ja noch, zumindest für den Moment. Da war der Mann, der ein Stück Seife essen wollte. Ich konnte es ihm gerade noch abnehmen, jedoch waren hinterher seine Zahnabdrücke darauf zu sehen. Dann war da die Frau, deren Haar ich kämmen sollte, weil sie selbst nicht mehr ihren Hinterkopf erreichen konnte. Eine andere, die ihre Hand an meine Wange legte, mich anlächelte und bei einem fremden Namen nannte.
Auf dem Papier wirkt der Text durch seine Darbietungsform erst so unspektakulär – aber er geht mir näher, als ich erwartet hätte.
Lieblingszitat: Fast wäre ich mit dem Vater in diesem Wald einfach verloren gegangen.
Im vierten und letzten Teil des Lesetagebuchs wird es um die Stücke „Als die Welt rückwärts gehen lernte“ von Lena Gorelik, „Mutter Vater Land“ von Akın Emanuel Şipal und „White Passing“ von Sarah Kilter gehen.