Sprachkunst und Schweigen


Kritik

Das erste Treffen nach langer Zeit. Vier alte Schulfreund:innen. Zurück in der Heimatstadt. Worüber redet man? Das Stück „Stummes Land“ von Thomas Freyer fängt mit genau so einer Situation an. Es ist das zweite Stück, das im Stream auf der Website der Mülheimer Theatertage gezeigt wird, in der Inszenierung von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden.

Die Bühne liegt im blauen Licht. Im Hintergrund ein Herzschlag. Die vier Schauspielenden (Benjamin Pauquet, Karina Plachetka, Oliver Simon, Fanny Staffa) mit den Rücken zueinander. In der Mitte ein leerer, quadratischer Tisch und genug Platz darauf, um heikle Themen auf denselben zu bringen. Oder Geheimnisse. Etwas, worüber man lieber nicht spricht. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, als die Schauspielenden nacheinander zu sprechen anfangen. Flüsternd. Als sollte man das, was sie sagen, eigentlich gar nicht hören.

Dann der Wechsel zu hellem, warmem Licht. Die vier Freund:innen beginnen, sich zu unterhalten – über die gemeinsame Vergangenheit und ihre jetzige Lebenssituation, die Stimmung ist ausgelassen. Durch die Anordnung der Stühle in den vier Ecken der quadratischen Bühne wirkt die Szene zwar gestellt und unnatürlich, aber die Schauspielenden schaffen es durch Floskeln wie „Wir sollten uns öfter treffen“ und grinsende Gesichter dennoch das Gefühl von Vertrautheit zu erschaffen. Doch auch im Folgenden gibt es immer wieder Momente, in denen nichts gesagt wird und in denen die Bühne in das bedrohliche blaue Licht getaucht wird. Die Hintergrundmusik (Live-Musik von Matthias Krieg) lässt nichts Gutes ahnen.

Sich zeigen, wie man sich eigentlich nicht zeigen will

Wirken diese Zwischeneinlagen zunächst übertrieben und melodramatisch, so erschaffen sie umso eindrücklicher das Gefühl von etwas Unheilvollem, das im Verborgenen schlummert: verschwiegene Fremdenfeindlichkeit im eigenen Denken. Soska, gespielt von Oliver Simon, nennt es „ein Spiel“ und bringt, angefangen mit dem Teilen eigener Erfahrungen, auch die anderen drei Freund:innen dazu, Gedanken zu offenbaren, die man normalerweise lieber für sich behält. In den Geschichten der vier Freund:innen werden Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im eigenen Kopf und Verhalten offenbart, die zwar erst geleugnet, aber dann doch zugegeben werden. Da kommt man ins Grübeln: Was würde ich in diesem Spiel offenbaren? Und: Von welchen Gedanken weiß ich, dass sie falsch sind, und denke sie dennoch?

Die gemütliche Runde im sterilen Umfeld wird jäh unterbrochen durch das Öffnen einer Luke in der Decke. Ein Sack wird von oben auf den Tisch geworfen. Stille. Ist da eine Leiche drin?, fragt man sich. Der silberne Tisch erinnert plötzlich an einen Obduktionstisch. Aber was obduzieren wir hier eigentlich? Die Bühne, die gerade noch steril aussah und so, als gäbe es nichts zu verbergen, füllt sich plötzlich mit allerhand Verpackungsmüll und Dokumenten. Statt eines Leichnams graben die vier Freund:innen in Tüten verschlossene Gegenstände aus dem Sack, als handelte es sich um gut verpackte Beweisstücke.

Lieder der Mai-Demonstrationen

Die Inszenierung nimmt an Fahrt auf. Die Schauspielenden verändern ihre Kostüme, sind plötzlich Kind, Mutter, Großvater. Sie erzählen nacheinander Geschichten: Erst Berlin 1961. Dann Erfurt 1975, Halle 1953. Zum Schluss Weimar 1958. Als Zuschauer:in ist es schwierig, von einer beschriebenen Erinnerung zur anderen zu folgen. Ohne Hintergrundwissen über politische Entwicklungen im Osten Deutschlands, über den Kommunisten Ernst Thälmann, über die Arbeiterbewegung und den Kampf gegen den Faschismus sind die geschilderten Erfahrungen schwer in Gänze nachzuvollziehen. Was aber hängen bleibt, ist das „Nicht-Sprechen“ über bestimmte Dinge. Politische Haltungen, bestimmte Denk- und Verhaltensweisen werden im Austausch der Generationen nicht erklärt, sondern verschwiegen. Sobald das Kind mehr weiß als es wissen darf, erscheint es der Mutter in Übergröße. So sieht es zumindest auf der Bühne aus als das Kind, gespielt von Benjamin Pauquet, vom Tisch auf seine Mutter (Oliver Simon) hinabschaut.

Auffällig sind die Lieder, die auf der Bühne performt werden. Es sind Lieder, die auf den Mai-Demonstrationen gesungen wurden oder die verbotene Strophe der deutschen Nationalhymne. Außerdem das Schwenken roter Arbeiterfahnen im Takt der Musik, das Gefühl von Zusammengehörigkeit. „Ach, ist das schön, wenn man zusammen singt“, sagen die Schauspielenden im Chor und stehen zusammen, aber doch auch mit Abstand zueinander auf der Bühne. Das wirft Fragen auf, denn was schließt das Wort „zusammen“ ein oder wichtiger: Wen schließt es aus? Eine Gemeinschaft wird doch erst zur Gemeinschaft, wenn sie sich von anderen abgrenzt. Oder?

Für den dritten Teil der Inszenierung verschwinden alle Beweisstücke in Löchern im Boden. Die Bühne wird wieder zum sterilen Ort, ist wieder vorzeigbar. Wenn jetzt jemand sagen würde: „Fremdenfeindlichkeit gibt es nicht mehr in Deutschland“, könnte man ihm in diesem Umfeld fast Glauben schenken. Jetzt zeigt sich Thomas Freyers Sprachgeschick besonders. In lyrischer Sprache verschwimmen die Sätze ineinander, reimen sich mal, klingen künstlich und dennoch alltäglich. Die Schauspielenden nehmen die Form des Textes auf, indem sie teilweise abgehackt reden, mit unnatürlichen Pausen. Alle vier sprechen gleichzeitig und zunächst fällt es schwer, überhaupt etwas zu verstehen. Die künstlerische Form der Sprache in diesem Teil des Stücks ist schön, verschleiert aber gleichzeitig die Aussage. Das ist einerseits unbefriedigend. Andererseits entsteht Raum für eigene Interpretation. Man wird selbst zum Denken und Hinterfragen angeregt.

Alles nur ein Spiel?

In einer Szene stehen die vier Schauspielenden aneinandergedrängt in einem Käfig ohne Decke und werden in die Luft gezogen, als ständen sie im Korb eines Heißluftballons. Sie schweben. In rot, grün, blau und gelb gekleidet, erinnern sie an Spielfiguren, die gleich das Haus verlassen, um „Mensch, ärgere dich nicht“ zu spielen. Denn das sei dieser Abend unter alten Schulfreund:innen und das Reden über fremdenfeindliche Gedanken: nur ein Spiel. Das beteuern die vier Schulfreund:innen. Oder ist internalisierter Rassismus doch ein Thema, das ein Land nicht länger verschweigen darf?

 

Zeichnung von Clara Werdin