Social Medias großer Bruder


Autor*innen

„20 Jahre Großer Bruder“, 20 Jahre Reality TV: Bloggerin Sabrina Fehring hat digital mit Regisseur und Autor Boris Nikitin gesprochen. Ein Interview über Wettbewerb, Selbstdarstellung und Überwachung.

Blog: Reality TV ist ja ein ungewöhnliches Thema fürs Theater. Wie kamst du auf die Idee, dazu ein Stück zu machen?

Boris Nikitin: Dazu muss ich kurz ausholen. Ich setze mich in meiner Arbeit seit 2007 mit der Konstruktion von Realität auseinander. Dabei spielen in fast all meinen Stücken die Biografien der Performer:innen eine wichtige Rolle. Das war etwas, das mich interessierte: Wer ist das da überhaupt auf der Bühne? Aber das Dokumentarische sah ich kritisch, empfand die ungebrochene Echtheits-Behauptung als Problem. Insbesondere, wenn es darum ging, "echte Menschen" auf die Bühne zu stellen. Ich empfand das als eine Reduktion von Identität. Gleichzeitig interessierte mich das Thema des Fakes: Da das Dokumentarische eine Echtheit suggeriert, gibt es ein hohes Täuschungspotential. In dieser Beschäftigung mit dem Realen und Nichtfiktionalen fiel mir auf, dass diese neueren Formen des Dokumentar- und Performancetheaters Analogien aufwiesen mit dem Format Reality-TV. Und interessanterweise kamen beide zur gleichen Zeit auf, nämlich um die Jahrtausendwende. Das ist der Kontext. Vor zwei Jahren fand ich heraus, dass sich „Big Brother“ zum zwanzigsten Mal jährt und dachte, das wäre die ideale Gelegenheit, um auf diese Thematik nochmal drauf zu schauen. Was ist da genau im Jahr 2000 passiert?

Blog: Könnte „Big Brother“ ein Grundstein sein für die sozialen Medien und die Selbstdarstellung?

Boris Nikitin: Das ist eine Behauptung, die ich reizvoll finde. „Big Brother“ war damals ein kultureller Einbruch. Mit Reality ist etwas erfunden worden, das es so vorher in der Unterhaltungsbranche noch nicht gab: Dass gewöhnliche Menschen sich vor die Kamera stellen und sich beobachten lassen – einfach, wie sie sind. Diese Verbindung aus Alltäglichkeit, privaten Körpern, Überwachung, verbunden mit einer Casting-Struktur - das war eine mediale Innovation. Darüber hinaus diese Gleichschaltung von Alltagsleben, Spiel und Gewinnen-Wollen. Im Container fliegt alle zwei Wochen jemand raus. Es geht um Aufmerksamkeit, Anerkennung, Sichtbarkeit, Präsenz und Wirkung als Formen von Wettbewerb und Arbeit. Da sind viele Dinge angelegt, die sich seither nach und nach zu einer Normalität auseinander gefaltet haben.

Blog: Was siehst du als Spiel - und was als den Gewinn?

Boris Nikitin: Normalerweise ist ein Spiel definiert durch eine bestimmte Rahmung und Abgrenzung. Es gibt ein Eintreten in das Spiel und ein Austreten aus dem Spiel. Es gibt bestimmte Regeln und vor allem gibt es eine Differenz des Spiels zum Alltag. „Big Brother" jedoch war eine Ausweitung dieser Spielzone an die Aussengrenzen des Privatlebens. Das Spiel inkludierte den Alltag komplett und verwischte die strukturellen Grenzen zwischen Spiel und Realität. Sie wurden ununterscheidbar. Die Genialität dieses Formats war dabei, einen Wettbewerb in die Spielsituation einzuführen. Denn der Wettbewerb führt dazu, dass zehn Menschen eben nicht einfach nur für eine gewisse Zeit in diesem Container sind und man sie dabei beobachtet, sondern das Ganze wird unter einen Konkurrenzdruck gesetzt. Es führt zu dem Verdacht, dass möglicherweise jede:r dieser Protagonist:innen eine versteckte Agenda hat. Alles steht unter dem potenziellen Verdacht des Scheins: Die tun ja nur so oder die sind nur so sympathisch, um ihres eigenen Vorteils willen, um das Spiel zu gewinnen. Es gibt eine latente Unterstellung. Das ist das Modell unserer Zeit. Die sozialen Medien sind eigentlich ein Spiel. Aber sie sind ein Spiel, das in die reale Welt hineinwirkt und sich mit ihr vermischt. Es gibt keine Grenze mehr – und ein Spiel ohne Grenzen ist kein Spiel. Wir sind immer noch dabei, das zu verarbeiten.

Blog: Glaubst du, dass sich die Gründe verändert haben, warum Teilnehmende heute mitmachen, im Vergleich zur ersten Staffel?

Boris Nikitin: Das ist ganz bestimmt so. Ich habe zwei Teilnehmer:innen im Vorfeld getroffen, Alex und Sabrina. Sie erzählten, dass sie damals überhaupt keinen Schimmer hatten, was da passieren würde. Sie wussten: es ist eine Show. Sie wussten auch, dass sie dabei beobachtet werden. Aber sie ahnten nichts von der Wirkung und Resonanz des Ganzen. Die erste Staffel ist deswegen so interessant, weil es das einzige Mal war, dass die Beobachteten - und im Grunde genommen auch die Produzent:innen - noch nicht ein eindeutiges Bewusstsein für den Blick des Publikums hatten. Es ist eigentlich ein existenzphilosophisches Märchen.

Blog: Ist Big Brother nach 20 Jahren überhaupt noch eine Sensation? Immerhin bewegen wir uns alle sowieso ständig in einer digitalen Öffentlichkeit. 

Boris Nikitin:  Als singuläre Sendungen in einem linearen TV-Programm funktionieren sie nur noch begrenzt. Die Reality ist in die digitalen Öffentlichkeiten weitergezogen und hat sich dort komplett ausgebreitet. V.a. in die Politik. Bevor er Präsident wurde, war Donald Trump Host einer Reality-TV-Show. Dann hat er sich die digitale Öffentlichkeit zu Eigen gemacht und die komplette US-Politik in eine Reality-Show verwandelt, der sich niemand entziehen konnte, weil die Auswirkungen der Show real waren. Dagegen wirken diese Reality-Sendungen geradezu unschuldig. Aber sie lieferten das Modell. Das ist das, was mich interessierte. Dieser Blick zurück an den Anfang dieses Modells. Das hat auch etwas mit meiner Generation zu tun: 20 Jahre zurückzuschauen ist für mich ein halbes Leben. Was ist in diesen 20 Jahren passiert? Die ursprüngliche Idee war ja, das Stück mit der Originalbesetzung zu machen, mit den Leuten, die damals in dem Container waren. Das hat mich interessiert: das Älterwerden, die Welt, die sich verändert hat, die Zeit, die vergeht.

Blog: Hat die Pandemie die Inszenierung oder den Gedanken des Stücks verändert?

Boris Nikitin: Sie hat vor allem die Probe-Bedingungen komplett verändert. Wir waren die erste Produktion im deutschen Sprachraum, die wieder angefangen hat, szenisch zu proben. Mit Masken, Abständen, alle 40 Minuten lüften. Ich hatte mir ursprünglich das Stück viel körperlicher vorgestellt, viel distanzloser. Das Interessante ist, dass wir das jetzt bei der Wiederaufnahme alle schon komplett vergessen haben. Wir denken, diese Inszenierung ist so, weil sie so sein sollte. Aber sie ist mit durch die Umstände geformt. Die Masken sind Teil der Inszenierung geworden, deswegen haben wir sie drin gelassen. Als ein Dokument dieser Realität.

Blog: Das Stück ist hier in Mülheim nur im Stream zu sehen. Wie verändert das die Inszenierung für dich?

Boris Nikitin: Es ist eine interessante Ironie der ganzen Geschichte. Big Brother war eine der allerersten Fernsehproduktionen, die mit einem Stream arbeitete. Es war ein Medienumbruch. Die Idee der ganzen Inszenierung sollte sein: Jetzt nimmt man dieses Reality-Trash-Format und bringt es auf die große Bühne des Staatstheaters. Nun ist genau dieser Rahmenwechsel nicht möglich und so kehrt das Ganze an seinen Ursprungsort zurück. Als Gedanke hat das eine eigene Schönheit. 

 

Zeichnung von Clara Werdin