26. Mai 2019 •
Europas Probleme in Sibylle Bergs Wonderland Ave.
Überwachung durch den Staat, Kritik am Kapitalismus, am Konsum, am politischen Machtgefüge, an unserer nationalsozialistischen Vergangenheit – Sibylle Bergs „Wonderland Ave.“ strotzt nur so vor Themen, die Europa angehen und bewegen. Themen wie Digitalisierung, Migration, Umweltschutz und Arbeitslosigkeit haben großes Diskussions- und Streitpotenzial. In ihrem dystopischen Stück arbeitet sich Berg nicht nur an diesen höchstaktuellen Themen ab, auch Europas Vergangenheit spielt eine große Rolle.
In Bergs Stück nimmt die Aufarbeitung des Nationalsozialismus einen großen Raum ein: Jeder Morgen wird mit „Mein Kampf Tag“ eingeläutet, nachts „von Vaterfiguren, von einem Führer […]“ geträumt „[…] während im Stundentakt Nachbar:innen aus ihren Wohnungen verschwanden“. Der Aufstieg der rechten Parteien in ganz Europa fühlt sich falsch an und lässt einen unbemerkt zur europäischen Flagge greifen. „[…] haben [wir] uns von den Nachrichten, die [wir] täglich konsumiert haben, verwirren lassen wie alle“, lässt sich mit der Autorin fragen. In der Hoffnung, dass sich am heutigen Sonntag alle für ein solidarisches und friedliches Europa entscheiden, lege ich Sybille Bergs Text beiseite. Ich hoffe, das Szenario in „Wonderland Ave.“ ist nicht das unsrige.
Denn Bergs dystopisches Theaterstück zeichnet eine Zukunft, die von Maschinen, lückenloser Überwachung, minimalem zivilen Ungehorsam und ein paar wenigen Gewinnern an der Spitze geprägt ist. Der Protagonist stellt hier eine wichtige Frage, die sich die Besitzer großer Konzerne wie Facebook und Bayer auch mal öfter stellen sollten: „Und hallo – wohin fliegt man mit der Macht in seinen Privatjets, wenn überall frustrierte, unnütze Menschen hocken?“ Die Zentriertheit der Macht ist auch im heutigen Europa (und auf der ganzen Welt) ein Problem. Die Reichsten der Reichen machen gerade einmal ein Prozent der Weltbevölkerung aus. Ungerechtigkeit pur, finden wohl die meisten Menschen (die nicht Teil dieser ein Prozent sind) in Europa, genauso wie der Protagonist in „Wonderland Ave.“
Das allzu perfekte Leben in „Wonderland Ave. “ findet der Protagonist in Bergs Stück gar nicht mehr so erstrebenswert, als er seine Selbstbestimmung abtreten muss. Jetzt, wo alles für ihn übernommen wird und er keine Ziele mehr hat, möchte er sein altes selbstbestimmtes Leben mit all seinen Problemen zurück. Für ihn geht es im Stück aber nur vorwärts: Er kann „den perfekten Zustand gewinnen“. Wie der aussieht, ist dem Protagonisten in „Wonderland Ave. “ genauso unklar, wie uns Menschen in Europa. Wie sähen die perfekten europäischen Politiker aus? Wie wäre die perfekte Haltung zum Brexit? Was für eine Funktion hätte ein perfektes Europa überhaupt in der Welt? Ist perfekte Überwachung perfekt?
Angesichts unser voranschreitender Digitalisierung und Maschinisierung fühlt man sich in Bergs Stück in unsere Zukunft versetzt und merkt zugleich, dass wir uns um unsere menschliche Seite sorgen müssen. Ein Europa der Menschlichkeit, Demokratie und Solidarität ist das, was wir uns in einer digitalen und sich verändernden Welt bewahren müssen.
Von Katrin Schlömer
Mit Wolfram Höll in die Disko und um die Welt
Ort der Handlung ist eine Disko. Wer darf rein und wer muss draußen bleiben, ist die entsprechende Frage in Wolfram Hölls gleichnamigen Stück. Das gilt für die Disko genauso wie fürs Land. Denn gegen Ende hin ist klar, die Disko steht sinnbildlich für die Aufnahme oder Abschiebung von Flüchtlingen. Hölls Text ist – dem Rhythmus der Technomusik folgend – formal musikalisch komponiert, bestehend aus sechs Spalten für sechs Figuren und fast horizontal lesbar.
Thematisch blickt Höll aus Deutschland auf Europa – und darüber hinaus: Er eröffnet eine globale Perspektive, die mit den Worten „Um die Welt ja um die Welt” immer wieder im Text angesprochen wird. Aus dieser einzigen Textzeile besteht der Song „Around the world” von Daft Punk. Dank der Globalisierung können wir heute einfach so um die Welt jetten, meint wohl der Song. Höll dagegen knüpft an die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre an, auch sie umrunden die Welt.
Er verleiht dieser Problematik viele Stimmen. Sie sprechen ein Gefühl fehlender Akzeptanz gegenüber Flüchtlingen aus („Wir müssen uns halt anpassen. Anpassen heißt auch ankommen”) oder verdeutlichen Ausschreitungen und Schuldzuweisungen: „Ich will deine Geschichte nicht mehr hören. Ich bin hier nicht zum Therapieren” oder „Jeden Abend die gleichen Kriegsgeschichten”. Hier kommen Traumata der Geflohenen zur Sprache („Die sind völlig traumatisiert”).
Und wie reagiert Europa auf Flüchtlinge? Auch auf diese Frage geben die Figuren Hölls verschiedene Antworten, von „Von wegen Ingenieure” über „Ich glaube es braucht ein Willkommensritual” und „Das ist ein Mensch der kommen will also heißt man ihn willkommen als Menschen” zu „Ich glaub eure Geschichte sollte lieber gar nicht erst anfangen”. Höll stellt auch zeitliche Zusammenhänge her, die nationale Gesinnung sei hier heute keine Andere als 1989. „‘Wir sind das Volk!’ – O-Töne von 1989. / ‘Wir sind das Volk!’ – Chemnitz-O-Töne von 2018.”
Mit dem Konzept des Innen und Außen der Disko überträgt Höll dieses aus der Disko auf Europa: „Wir vergelten nicht Mord mit Mord. Wir vergelten gar nicht hier in Europa. Wenn er es war, dann gibt es eine Strafe: Er muss gehen”.In Europa würde anderes Verhalten entscheiden. In Europa wird die Abschiebung als Strafe praktiziert. Europa als der Ort, wo alle hinmöchten.
Im Schlussmonolog des Autors, wie es explizit im Text genannt wird, spricht Höll schließlich mit deutlicheren Worten. In der Vergangenheit hätten Leute für unsere heutige Selbstbestimmtheit und Meinungsfreiheit gekämpft. Das sei nicht als selbstverständlich hinzunehmen, auch nicht von Menschen, die derzeit „Lügenpresse” rufen. Diese wählen Parteien mit nationalen Gesinnungen, die genau diese wichtigen Elemente einer Demokratie abschaffen würden. Gerade jetzt, mit absehbarem wachsendem Rechtsruck in ganz Europa und im Hinblick auf die Europawahl, ist Hölls Aussage nicht auf die Lage in Deutschland zu beziehen. Er warnt hier vor einem Verlust der Demokratie; „Und dann gibts nichts mehr zum Wählen”.
Von Lena Sophie Weyers
Theater for Future
Freitagmittag in Dortmund, 12.05 Uhr. Die Klassenräume sind heute wahrscheinlich spärlich besetzt, denn die Straßen laufen über vor protestierenden Schülern. Die Luft ist voll von Stimmen, Pfiffen, Fußgetrappel, Wut, Motivation und Energie. Wo man nur hinsieht, entdeckt man Schilder: „Diesel retten? Ernsthaft? Klima retten!“ heißt es da. Oder „Have some respect for your mother earth“. Auf einer besonders kunterbunt gestalteten Pappe kann man lesen: „Macht es wie wir Kinder: werdet erwachsen“.
Mit bunten Buchstaben und lauten Stimmen protestieren Schüler auf der ganzen Welt gegen die Ignoranz vieler Erwachsener, wenn es um die Klimakatastrophe geht, und folgen so dem Vorbild der 16-jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg. Als Gesicht der weltweiten Bewegung „Fridays For Future“ repräsentiert sie den Protest einer politisch gerade erst erwachenden Generation.
Auf den Straßen gibt es lauten Protest, wie sieht es auf dem Papier aus? Wie wird der Klimawandel in den nominierten Stücken der Mülheimer Theatertage thematisiert?
Konkret haben wir da „Disko“ von Wolfram Höll und Thomas Köcks „atlas“, die sich augenscheinlich mit dem Thema Flucht auseinandersetzen. Sibylle Bergs „Wonderland Ave“ bespricht vor allem den zunehmenden Einfluss von digitalen Technologien auf unseren Alltag, Jelineks „Schneeweiss“ greift die „Me too“-Debatte auf und „Der Westen“ von Konstantin Küspert kritisiert unsere westliche Gesellschaft und ihren Freiheitsbegriff. Im Text „Mitwisser“ von Enis Maci wird unter anderem das Phänomen von rechten Hooligans aufgenommen. „Die Abweichungen“ von Clemens Setz beleuchtet unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Die gegenwärtige Dramatik bringt also aktuelle Phänomene auf die Bühne und ermöglicht den Zuschauern einen anderen, vielleicht sogar neuen Blick auf die Geschehnisse, Skandale und Debatten. Warum aber hat es der Klimawandel, das wohl dringendste Problem der heutigen Zeit, offensichtlich in keinen der acht nominierten Texte geschafft? Tatsächlich trügt der erste Schein. Zwar sind die Ursachen und Konsequenzen der Erderwärmung kein zentrales Thema, dennoch haben sich einige passende, kritische Kommentare in den Texten versteckt.
In Enis Macis „Mitwisser“ heißt es zum Beispiel „Die Stimme der Mutter Erde ist ein Morsecode. Sie sendet unablässig Hilferufe“ und Thomas Köck schreibt „Dass die Welt noch steht, das sollte uns eigentlich wundern.“ Sibylle Berg lässt den Menschen in der Wonderland Avenue sagen: „Außer etwas zu kaufen oder zu streamen oder was Gutes zu essen, kann ich mir nichts vorstellen“, was zwar kein direkter Kommentar zum Klimawandel ist, aber doch die Lebensweise unserer Gesellschaft kritisiert, die den Klimawandel befeuert, und zwar Ignoranz, Konsumsucht, Weltfremdheit und Faulheit. Sie fragt: „Schmelzen die Polarkappen? Haben Sie das gesehen oder glauben sie Berichten?“ und spricht damit die Uninformiertheit der Menschheit an.
Wir leben in dieser Welt, aber wir wissen oft nichts von dem, was passiert – oder eben nur das, was durch den Filter der Medien zu uns durchdringt. Wir konsumieren, konsumieren, konsumieren, oft ohne über Plastikverpackungen, Herstellung und Transport nachzudenken. Wir essen Erdbeeren im Winter. Wir lassen das Licht an, obwohl wir nicht zuhause sind. Wir fahren noch die kürzeste Strecke mit dem Auto: „Das ist echt so Menschheit“ lautet ein Satz aus „Die Abweichungen“ von Clemens Setz‘.
Und Wolfram Höll? Der gibt in seinem Nachwort sogar eine Antwort darauf, warum er persönlich den Klimawandel noch nicht zum Hauptthema einer seiner Theaterstücke gemacht hat: „Wenn etwas wirklich grenzenlos ist, dann die Zerstörung der Natur. Aber mach darüber mal ein Stück, über das Insektensterben.“
Von Clara Werdin