24. Mai 2019 •
Melis Icten: Wie kann man sich den Auswahlprozess für die Stücke vorstellen?
Christine Wahl: Die Saison beginnt direkt nach unserer Auswahlsitzung im Februar. Aus Mülheim kommt eine Liste mit den kommenden Uraufführungen, die anfangs noch überschaubar ist, sich aber im Laufe der Monate deutlich füllt. Innerhalb des Gremiums versuchen wir uns einmal im Monat zu treffen und besprechen die Texte, die wir schon gelesen und die Uraufführungen, die wir schon gesehen haben.
Julia van Leuven: Wie viele Stücke lesen Sie eigentlich pro Saison?
CW: Insgesamt lesen wir ungefähr 120 Texte pro Spielzeit, wobei wir feststellen, dass sich der Textbegriff und damit auch unsere Lektüre immer stärker erweitern. Bei performativeren Formaten müssen wir manchmal auch zuerst die Inszenierung anschauen, um zu entscheiden, ob der Text für uns, in einem Autor:innenwettbewerb, in Frage kommt.
MI: Welche Textformen mögen Sie besonders gerne?
Das hängt nicht so sehr vom Genre ab. Generell mag ich Texte – und auch Aufführungen – wenn sie ein paar Räume zum Denken lassen, nicht jede Frage bis ins Letzte beantworten.
JVL: Worin sehen Sie die wichtigsten Aufgaben eines Theaterkritikers oder einer Theaterkritikerin?
CW: Mein Ziel ist, dem Leser und der Leserin ein möglichst genaues Bild von der Aufführung zu vermitteln. Ich finde es wichtig, dass man seine Kritiken transparent schreibt, die Kriterien, nach denen man urteilt, klar macht. Für wesentlich halte ich, keine unbegründeten Urteile zu fällen, sich nicht irgendwelchen Ressentiments hinzugeben, weil einen zum Beispiel die Form weniger interessiert. Denn dass jede:r eigene ästhetische Vorlieben hat, ist ja nicht zu leugnen. Regelmäßige Selbsthinterfragung finde ich wichtig.
MI: Hatten Sie schon einmal eine Art Schreibblockade, bei der Sie überhaupt nicht wussten, was Sie über eine Inszenierung schreiben können?
CW: Ich glaube, das hatte ich tatsächlich noch nicht. Wenn man den Text vorher gelesen hat, hat man ja immer ein Handwerkszeug. In Kenntnis des Textes – und zusätzlich vielleicht noch der Handschrift des inszenierenden Regisseurs oder der inszenierenden Regisseurin – entsteht sicher auch eine Art Erwartungshaltung. Es kann natürlich sein, dass ich einen Text lese und merke: Das ist jetzt nicht so mein Thema oder meine Form. Aber dann gibt es eben dennoch diese Basis. Was ich manchmal allerdings tatsächlich schwierig finde, sind Inszenierungen kanonischer Stücke, wenn mir nicht ein außergewöhnliches Regiekonzept oder eine noch nie dagewesene Rolleninterpretation ins Auge springen.
MI: Können Sie Beispiele nennen, bei denen es Ihnen so gehen kann?
CW: Bei Stücken wie Romeo und Julia oder Hamlet, die ich schon gefühlte 50mal gesehen habe, sitze ich manchmal schon recht lange am Computer und überlege, was ich schreibe, zumal sie ja auch wirklich fast jede:r kennt. Das ist mit neuen Texten einfacher. Wenn ich einen Text aus irgendeinem Grund schwierig finde, kann das aber auch ein guter Impuls sein. Manchmal hat man zum Beispiel Fragen an den Text und merkt dann, wenn man in der Uraufführung sitzt, dass der Regisseur oder die Regisseurin offenbar die gleichen Fragen hatte. Das kann auch sehr großen Spaß machen, das ist dann wie ein Dialog über Bande.
JVL: Unterscheiden Sie bei den Kritiken zwischen Stück und Inszenierung?
CW: Ja, das ist für mich als Kritikerin grundlegend, auch bei Uraufführungen. Der Kodex, dass der Regisseur oder die Regisseurin den Text dort erst einmal vorstellt und nicht zu viel streicht, kann im schlimmsten Klischeefall ja auch dazu führen, dass die Regie ein paar Schauspielerinnen und Schauspieler im leeren Raum an die Rampe stellt und ansonsten im Prinzip gar nichts mehr macht. Deshalb schätze ich es besonders, wenn Regisseurinnen oder Regisseuren auch zu neuen Texten starke ästhetische Setzungen einfallen, wenn sie sich sichtbar zu ihnen verhalten – und das sollte man in der Kritik dann auch entsprechend herausarbeiten, finde ich.
JVL: Welche Themen begeistern Sie persönlich im Theater?
CW: Begeistert bin ich eigentlich immer, sobald mich etwas überrascht, also wenn ich zum Beispiel zum zigsten Mal Die Räuber sehe und der Regisseur oder die Regisseurin im Stück etwas entdeckt hat, was ich nicht gesehen habe, was mir aber einleuchtet und mich interessiert.
MI: Können Sie bei der diesjährigen Auswahl für Mülheim Tendenzen feststellen, in Bezug auf die Themen der Stücke?
CW: Autorinnen und Autoren reagieren relativ schnell auf aktuelle Phänomene. Es gibt zurzeit zum Beispiel viele Stücke, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen, wie Sibylle Bergs Wonderland Ave. im aktuellen Auswahljahrgang. Themen, die gesellschaftlich gerade wichtig sind, landen natürlich relativ schnell in der neuen Dramatik. In diesem Jahr gibt es zwei Stücke, die sich aus interessanten neuen Perspektiven mit Flucht beziehungsweise Geflüchteten beschäftigen, Disko und atlas.
JVL: Ist das ein neues Phänomen im Theater?
CW: Das Themenfeld ist schon länger in der Dramatik präsent, spätestens seit 2016. Zu Beginn waren das ziemlich unmittelbare, sehr direkte Auseinandersetzungen. Über die Jahre – das habe ich auch schon bei anderen Themen festgestellt - entsteht dann eine größere Abstraktion, die Autorinnen und Autoren beschäftigen sich aus anderen Perspektiven mit dem Thema. Es braucht offenbar eine gewisse Distanz, eine Zeit der Reflexion, bis andere Formen gefunden werden. Ansonsten beobachte ich, dass die Dramatik häufig versucht, Phänomene, die in den Medien relativ einseitig oder polarisierend diskutiert werden, wieder für mehr Perspektiven zu öffnen, sozusagen ein anderes Komplexitätsangebot zu machen.