Müller, Milchreis und Heidi


Kritik

Die Bühne wirkt minimalistisch, mit ein paar Blecheimern und einer Pflanze verteilt auf drei großen Stufen. Das blau-weiße Licht erinnert zusammen mit den Einbauleitern zuerst an ein Schwimmbad. Schnell stellt sich heraus, dass es sich um ein Hochhaus handelt, dessen dritte Stufe den Dachboden darstellen soll. Eingerollt in eine Bettdecke wälzt sich auf der untersten Stufe Kemal. Er ist verzweifelt. Denn er weiß nicht, was Heimat für ihn bedeutet. 

Von der Lehrerin beauftragt, einen Gegenstand mit in den Unterricht zu bringen, der seine Heimat symbolisieren soll, resigniert der Achtjährige. Auch die bemühte Großmutter kann ihm mit ihrem Topf Milchreis oder ihren Fotos aus der Türkei nicht helfen. Für sie steht fest: Ihre Heimat ist die Türkei. Das entsprechende Symbol ist die türkische Version des Kinderbuchs Heidi. Kemals Vater winkt die Ideen seiner Mutter ab, denn in der Türkei sei sein Sohn „(…) doch nur in den Ferien“. Er ist überzeugt davon, dass der deutsche Reisepass oder ein Fußball-Trikot von Müller trotz Empörung der Großmutter („Der Müller ist Türke??“) das Heimatgefühl seines Sohns zum Ausdruck bringen kann. Keiner dieser Vorschläge macht für Kemal Sinn. Frustriert legt er sich schlafen. 

Wie eine Märchenfigur tritt plötzlich Ela, das Nachbarskind aus der oberen Etage, in seinem Zimmer auf und lenkt Kemal mit Wanderideen und ihrer eigenen Interpretation von Heidi von seinem Kummer ab. Kemals Schwester Leyla diskutiert währenddessen mit Karl, einem im Einkaufswagen sitzenden und mit Müll eingekleideten Kind, über dessen angebliche Heimat namens „Unterschiedlich“. Leyla möchte den Beweis. Er soll sie dorthin führen, während sie ihm von der Geschichte von Heidi erzählt.

Türkisch von Anfängern für Anfänger

Das Thema ist aktuell, ein Kinderstück zum Thema Heimat zu schreiben, fruchtbar. Die Inszenierung bedient sich dann allerdings doch einiger, teilweise unsinniger Klischees. Inhalte für ein Kinderpublikum zu vereinfachen, ist unerlässlich, aber noch lange kein Grund für grobe Stereotype. Stichwort: Transkulturalität. Die türkische Großmutter trägt heutzutage eben nicht mehr unbedingt ein Kopftuch. Und der Vater, der vollkommen in seiner deutschen Identität aufgeht, hat auch keinen fein gestutzten Oberlippen-Schnurrbart. Ehrliches Interesse für eine authentische Darstellung einer deutsch-türkischen Familie fehlt der Inszenierung von Anne Verena Freybott grundsätzlich. Dass nicht einmal die Großmutter eine verständliche Aussprache des Türkischen hat, ist vor allem für den Hauptspielort der KinderStücke, das Theater an der Ruhr, das unter anderem Veranstaltungsstätte für die Szene Istanbul ist, ärgerlich. Während Katja Hensel sich in ihrem Stück von Kategorisierungen zu distanzieren versucht, steht Freybotts Inszenierung mit unstimmigen Stereotypen im Widerspruch dazu. Blackfacing ohne Farbe fällt eben weniger auf – vor allem bei einem Kinderstück.

Der Inszenierung fehlt es allerdings keinesfalls an Witz. Es sind nicht nur die Kinder, die unglaublichen Spaß bei der Aufführung im Theater an der Ruhr haben. „Wir sind eine richtige Milchreis-Familie!“ ruft Sandro Šutalo, alias Kemal, aus kindlicher Wut über seinen heimatlosen Zustand. Er setzt die Rolle des mürrischen Kemal erfolgreich mit dem Gestus eines trotzigen Kindes um. Nach anfänglichen Spannungen bildet sich zwischen ihm und Ela ein wundervolles Team. Kemal hilft seiner neuen Freundin, in der ihr unbekannten Umgebung Fuß zu fassen, während sie ihn auf seiner Suche nach einem Heimatsymbol unterstützt. Miriam Haltmeier drückt Elas Zurückhaltung mit einer schüchternen Mimik aus. Ihr wahres Alter gerät schnell in Vergessenheit. Kemal und Ela geben alles, um das Buch Heidi wieder für die Großmutter zusammenzubasteln, das Kemal zuvor auseinandergerissen hat. Sie tanzen bei beschwingter Musik auf die verrückteste Art und Weise und basteln mit unterschiedlichen Materialien kreativ am Buch. 

Mokka mit Beigeschmack

Anke Fonferek stellt sowohl Elas Mutter als auch Kemals Großmutter im schnellen Wechsel ohne Erschöpfung oder Versprecher grandios dar, wirkt jedoch in ihrer dritten Besetzung als Kemals jüngere Schwester Leyla weniger authentisch. In seiner Rolle als Karl erntet Tobias Loth weitere Lacher, als er einer Zuschauerin einen Ast als Symbol für seine Heimat schenkt. Er wird durch seine Schauspielleistung mit dem Fokus auf Naivität und Optimismus zwischenzeitlich zum Sonnenschein der Inszenierung. Das Stück will ganz klar unterhalten, und zwar ohne das Publikum zu belehren.

Trotz der Gründung eines Heimatministeriums in Deutschland ist die Frage „Was ist Heimat?“ nicht eindeutig zu beantworten. Die gesellschaftlich-politischen Debatten zum Thema Heimat werden im Stück nicht direkt angesprochen, sondern bekommen durch die drei Kinderfiguren eine persönliche Note. Mit deren Sprache und mit deren Problemen können sich vor allem die Kinder im Publikum besser identifizieren. Wie türkischer Mokka wird die Inszenierung von Haydi! Heimat! zu einem kurzweiligen Genuss, dessen Kaffeesatz aber doch einen üblen Beigeschmack auf der Zunge hinterlässt.