12. Mai 2019 •
Die Bühne liegt noch im Dunkeln. Auf die Gesichter der Zuschauer:innen fällt helles, kaltes, ja unangenehmes Scheinwerferlicht. Die Situation erinnert an eine Art Verhör: Der:Die Zuschauer:in in seinem dekadenten, gemütlichen, rot gepolsterten Sitz ist der Beschuldigte und soll der Realität ins Auge schauen.
Denn nach Sibylle Berg sieht unsere Zukunft so aus: In der „Wonderland Ave“-Anlage leben die PERSONen, die letzten Menschen, die nach Finanzkrisen, Umweltkatastrophen und Religionskriegen noch übriggeblieben sind. Sie werden vom CHOR der Roboter kontrolliert, überwacht und angetrieben. Denn eigentlich könnte die Menschheit auch abgeschafft und durch Maschinen ersetzt werden. Ihre wichtigste Eigenschaft hat sie nämlich durch übermäßigen Konsum, Schönheitswahn und ständiges Erklimmen der Karriereleiter (aus den Augen) verloren, ihre Menschlichkeit.
In einem künstlich arrangierten Wettbewerb sollen die Menschen nun dazu gebracht werden, das Beste aus sich herauszuholen. Das Ziel ist für sie der „perfekte Zustand“. Der Begriff wirkt zunächst abstrakt, ungenau und übertrieben, aber spiegelt doch genau das wider, wonach die Menschen heute streben: ständige Optimierung. Wir stehen im ewigen Vergleich, im ewigen Wettkampf. Oft geht es nur darum, schneller, höher, besser oder eben reicher, schöner, erfolgreicher zu werden. Aber kann denn wirklich irgendjemand den perfekten Zustand konkret definieren? Gibt es ihn überhaupt? Nach der Autorin wohl nicht. Denn ihre PERSON verspricht sich dauernd, sagt „Dasein“ statt „Zustand“. Es ist ja auch so, dass ein finaler Zustand wie Perfektion für uns Menschen als sich ständig weiterentwickelnde lebendige Wesen gar nicht zu erreichen ist.
Streben nach weißen Zähnen und bunten Smoothies
Sibylle Berg schreibt zynisch und sarkastisch und karikiert die Menschheit, um vor allem auf ihre Verblödung aufmerksam zu machen. Als Leser von Wonderland Ave. wird man sich der eigentlichen Lächerlichkeit des Menschseins bewusst. Wir streben nach Schönheit, weißen Zähnen, neuen Sneakern, bunten Smoothies. Aber gleichzeitig verleugnen wir die natürlichen Eigenschaften unseres menschlichen Körpers: Fürze, Achselhaare, Arschlöcher, Schweiß.
Das Bühnenbild von Ersan Mondtag nimmt gerne diesen Gedanken auf und besticht vor allem durch ein sehr offensichtliches Thema: Der menschliche Körper und seine Darstellungsformen. Und zwar entweder weiblich oder männlich, nackt oder bekleidet, perfekt oder menschlich, tot oder lebendig. Das Bühnenbild erinnert an ein Museum, in dem die Menschen ausgestellt werden wie Dinosaurier. Im Zentrum zwei riesengroße nackte Skulpturen – Nachbildungen der Darsteller der PERSONen (Kate Strong und Bruno Cathomas). Die Frauenfigur hält ihre Hand schützend vor Brüste und Geschlechtsorgan. Auch das Gesicht der Figur ist durch ein Laken verdeckt. Bei der liegenden Männerfigur sind Penis, Brustwarzen, auch Augen sehr gut zu erkennen. Hier wird auf die paradoxe Gegebenheit aufmerksam gemacht, dass sichtbare nackte männliche Oberkörper absolut kein Problem darstellen, während Frauen, die oben ohne durch die Fußgängerzone laufen oder ihre Brüste auf Instagram posten, immer noch ein absolutes Tabu zu sein scheinen.
Online gegen die Missstände der Welt
An den Bühnenwänden hängen Gemälde und Fotos. Auch auf ihnen sieht man vorwiegend menschliche Körper. Unter anderem Adam und Eva (noch im Paradies), ein Bild der Autorin Sibylle Berg, Bruno Cathomas als Frida Kahlo und ein klassisches Dickpic. Menschheit halt. Aber was hat „die Ära der Menschheit“ vorzuweisen?
Ganz oben hängt das Foto des ans Ufer gespülten Körpers eines toten Flüchtlingsjungen, das vor einiger Zeit viral gegangen ist. Statt Mitgefühl, Nächstenliebe, Menschlichkeit drückt das Bild Ignoranz, Egoismus und Faulheit der Menschen unserer privilegierten Gesellschaft aus. Denn wie reagieren wir hier auf solche Bilder, auf Leid, Zerstörung und Katastrophen, wenn sie uns nicht direkt selbst betreffen? „Ich möchte mit anderen online gegen die Missstände auf der Welt vorgehen“, sagt die männliche PERSON. Alles nichts als Floskeln, ein Fass ohne Boden.
Am Ende stehen nur noch die Maschinen auf der Bühne und sprechen im Chor direkt zum Publikum. Dabei werden sie mit jeder Frage lauter und es wirkt fast wie eine Hand, die immer näherkommt und uns am Schlafittchen packt: „Sind die Mitteilungen, die Sie vom Denken abhalten, real?“ Und: „Glauben Sie, dass irgendwas von dem, was Sie zu wissen meinen, wirklich existiert?“
Sibylle Bergs Text ist eine dringend notwendige Ohrfeige. Oder mit anderen Worten: Wacht auf! Hinterfragt! Bildet euch! Sprengt eure Blase!