Dramen im Diskurs


Diskurs

Daniel Weber: Frau Wild, Sie sind Theaterwissenschaftlerin, freie Journalistin und Lektorin. Seit mittlerweile fünf Jahren sind Sie bei den Stücken für die Publikationen zuständig. In diesem Jahr unterrichten Sie zum ersten Mal ein begleitendes Stücke-Seminar an der TU Dortmund. Es ist nicht Ihre erste Dozentur. Was ist – im Vergleich zu regulären Uni-Seminaren – das Besondere am „Stücke“-Seminar?

Katharina Wild: Das Neue am Stücke-Seminar ist die enge Anbindung ans Festival. Das Besondere sind die gemeinsamen Inszenierungsbesuche und die Gespräche mit den Beteiligten, also mit Autorinnen und Autoren und den Leuten von den Theaterensembles. Das soll den Studierenden die Möglichkeit geben, hinter die Kulissen eines Festivals und in die gegenwärtige Theaterlandschaft hineinzuschauen und zu sehen, dass die Texte nah an der Lebenswirklichkeit sind.

Daniel Weber: Im Seminar haben wir drei „Stücke“-Texte behandelt: Elfriede Jelineks „Schnee Weiss“, Wolfram Hölls „Disko“ und Clemens Setz‘ „Die Abweichungen“. Warum haben Sie sich für diese Stücke entschieden?

Katharina Wild: Ich möchte den Studierenden zeigen, welche große Bandbreite Gegenwartsdramatik umfasst. Mit Elfriede Jelinek haben wir dieses Jahr wieder eine Ikone des Gegenwartstheaters dabei. Ich finde, wie es in der Klassik Goethe war, muss man Elfriede Jelinek in der Gegenwartsdramatik gelesen und gesehen haben. Sie hat die postdramatische Theaterentwicklung maßgeblich mitgeprägt. Wolfram Höll geht in diesem Jahr formal so weit, dass er für das Theater eine ganz neue Sprache entwickelt, das gibt dem Seminar nochmal einen anderen Schwerpunkt. Mit Clemes Setz‘ Text will ich zeigen, dass es durchaus noch Stücke gibt wie viele sie aus der Schule kennen, mit „richtigen“ Dialogen und „richtigen“ Figuren, und dass sie trotzdem sehr zeitgemäß sein können. Ich hätte aber auch alle anderen Stücke auswählen können, weil jedes etwas Spannendes bietet.

Clara Werdin: In unserem Kurs kam Wolfram Hölls Text sehr gut an. Der ist ja schon auf den ersten Blick, in dieser Excel-Tabellenform, sehr eindrucksvoll. Auch beim Lesen im Kurs, mit verteilten Rollen, hatten wir viel Spaß. Dabei war das gar nicht mal so einfach: Man muss ungeheuer aufpassen, wann man dran ist und mit wem man gleichzeitig sprechen muss. Der Text ist ziemlich eng getaktet, die Augen müssen beim Lesen echt von Zeile zu Zeile, von Spalte zu Spalte springen, um mitzukommen. Meistens haben wir uns verhaspelt und mussten von vorne anfangen. Der Text „Schnee Weiss“ von Elfriede Jelinek war hingegen eine richtige Herausforderung. Dieser Fließtext war gar nicht so leicht zu lesen. Bis zum Ende hat den Text tatsächlich fast niemand gelesen. Aber einen Eindruck davon, wie formlos ein Theatertext sein kann, haben wir trotzdem bekommen. Der Regisseur hatte ja echt viele Freiheiten. „Die Abweichungen“ von Clemens Setz wurde im Kurs sehr kontrovers diskutiert. Die Grundidee der Miniaturnachbildungen mit eingebauten Abweichungen fanden die meisten zwar spannend, aber im Text nicht wirklich gut nachverfolgt und zu Ende gedacht. Später im Publikumsgespräch erzählte Clemens Setz von einem Buch, das er gelesen hatte, in dem eben nicht das passiert, was alle erwarten. Eine ähnliche Situation habe auch er erzeugen wollen. Zu erfahren, aus welchen Motiven ein Autor arbeiten kann, war sehr interessant. 

Daniel Weber: Gibt es in Ihren Augen Besonderheiten, wie Studierende Texte rezipieren?

Katharina Wild: Ja, auf jeden Fall, aber das würde ich nicht an die Studierenden koppeln. Es ist in jedem Gespräch so, dass ein Text sich erst erschließt, wenn man ihn mit anderen reflektiert. Das Großartige an Theatertexten ist, dass sie einen Resonanzraum brauchen, in dem auch Sichtweisen von anderen einfließen. Eigentlich wird ein Text für mich erst komplett, wenn ich mit anderen darüber spreche. Der Dialog über sie ist ein wichtiges Element der Texte, und bei den eigenen Assoziationen gibt es kein richtig und kein falsch. Wenn das im Seminar ankommt, ist schon viel gewonnen.

Clara Werdin: In Hölls „Disko“ gibt es eine Figur, die „Neona“ heißt, was eine Kurzform von „Neonazi“ sein soll. Das war mir zum Beispiel überhaupt nicht bewusst vorher. Durch den gemeinsamen Blick auf die Stücke bekommt man als einzelner viel mehr Eindrücke.

Daniel Weber: Mit Blick auf die Europawahl: Würden Sie sagen, die Diskussion von Theatertexten in der Universität ist demokratiefördernd?

Katharina Wild: Ja, auf jeden Fall! Ich finde zum Beispiel, dass das Rezo-Video – und vielleicht ist das gewagt zu sagen – auch eine Kunstform und eine Form von Stellungnahme ist. Ich musste da an Schlingensief denken, der schon vor Jahrzehnten forderte: „Tötet Helmut Kohl“, und so in einem künstlerischen Kontext eine ähnliche Setzung machte wie Rezo. Meiner Meinung nach sind die politischen Debatten in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu kurz gekommen. Ich denke, dass Gegenwartsdramatik ebenso wie viele andere Bereiche der Medien und Kunst die Möglichkeit haben, das wieder zu beleben. Und wenn Studierende anfangen darüber nachzudenken, warum ein Autor etwa die Flüchtlingskrise auf die eine oder andere Art in einem Stück beschreibt, denken sie vielleicht auch darüber nach, wie es in ihrem Alltag mit solchen Themen aussieht. Ich denke schon, dass Theater solche Debatten anstoßen und verstärken kann und auch eine Haltung fördert, in der man mehr über sich selbst und die Gesellschaft nachdenkt – und dann vielleicht etwas tut.

Daniel Weber: Haben sich die Texte und Textformen der Gegenwartsdramatik in letzter Zeit verändert?

Katharina Wild: Ich glaube, dass sich die jüngeren Autorinnen und Autoren mehr trauen. Sie spielen auch formal sehr virtuos mit all den Möglichkeiten, die die Textproduktion inzwischen bietet. Es geht nicht mehr so sehr darum, einen Kontrapunkt zu setzen und etwas aufzubrechen, sondern eher darum, wie die Gegenwartsautorinnen und -autoren die unglaublich vielen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, mit großer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit nutzen. 

Daniel Weber: Die Theatertage kooperieren verstärkt mit Hochschulen, dazu gehören die begleitenden Seminare und auch unser Blog. Wie profitiert das Festival von dieser Zusammenarbeit, bei der sich Studierende auf unterschiedliche Weise mit den Theatertexten auseinandersetzen?

Katharina Wild: In diesem Jahr ist die Arbeit mit den Hochschulen intensiver geworden. Für das Festival ist das eine riesige Bereicherung, weil wir dadurch mit Menschen zusammen arbeiten, die näher an gesellschaftlichen Entwicklungen dran sind, die auch die Zukunft betreffen. Sie spiegeln uns, wie sie die in den Stücken behandelten Themen und das Theater an sich wahrnehmen. Ist das überhaupt gesellschaftlich oder künstlerisch relevant, was wir hier machen? Es geht nicht nur darum, drei Wochen tolles Theater zu sehen, sich vielleicht ein wenig moralisch zu entrüsten und dann weiterzumachen. Vielmehr soll ein Diskurs darüber entstehen, ob und wozu wir Theater eigentlich brauchen. 

Daniel Weber: Am Samstag, zum Ende des Festivals, findet im Theater an der Ruhr das Studierenden- Symposium unter dem Titel „Hauptsache Text!?“ statt. Da kommen alle Studierenden, die sich in Seminaren oder als Szenische Forscher mit den Stücken beschäftigt haben, zusammen. Was erwarten Sie von diesem Treffen? 

Katharina Wild: Wir hoffen, dass die Studierenden der verschiedenen Universitäten Lust haben, sich über ihre Arbeit auszutauschen. Am interessantesten finde ich es da, dass auch Studierende der Szenischen Forschung anwesend sein werden, die sich ja auf eine ganz andere Art mit den Stücken beschäftigt haben – eben nicht theoretisch-analytisch, sondern durch ein künstlerisches Erschließen. Ich finde, das ist eine sehr gute Chance sich auch einmal darüber zu unterhalten, wie man sich einem Text sonst noch annähern kann, um so den eigenen Horizont im Umgang mit Theater zu erweitern.