Die Beats hallen noch nach


Gespräch

Klick, klack, klick, klack. Die Schauspielerin Anna Keil durchquert den Kammermusiksaal und führt mit ihren Schuhen den Beat weiter, der alle Anwesenden schon die letzten 75 Minuten begleitet hat. Die Zuschauer:innen wirken entsprechend angespannt, angeregtes Stimmengewirr erfüllt den Saal. Der Autor Wolfram Höll dagegen sitzt entspannt auf dem Podium und gießt sich eine Cola ein. Mit seinem locker sitzenden weißen Hemd, der gestylten Frisur und der runden Brille sieht er hip, jung und retro aus. Er würde gut in eine Disko passen. 

Wolfram Höll ist zum dritten Mal für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert – diesmal mit einem Stück zur deutschen Willkommenskultur, die ausgerechnet in einer Disko stattfindet. Welcher der Schauspieler sich in seiner Rolle richtig gegenüber den Flüchtlingen verhalten habe, will Moderator Sven Ricklefs wissen. Während Höll bei seinen ersten Antworten noch zurückhaltend wirkte, ist er sich hier sicher: „Das Stück soll nicht auf einer richtigen Seite stehen.“ Es gebe immer eine Ambivalenz der Willkommenskultur. Die sogenannte Flüchtlingskrise hat 2015 in der deutschen Gesellschaft für heftige Diskussionen gesorgt. Da habe man sich entscheiden müssen, ob man für oder gegen Flüchtlinge sei. Genau diese Entscheidung fordere das Theaterstück aber nicht. Das Stück wolle nicht über einzelne Personen urteilen, sondern zum Nachdenken anregen. Höll positioniert sich klar auf der Seite Pro-Flüchtlinge, in seinem Stück zeigt er aber Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf und lässt jede:n Schauspieler:in eine andere Meinung äußern. Die Disko ist dann der Ort, wo alle Emotionen zusammenkommen – immer im Takt der Beats.

„Eigentlich machen wir zusammen Musik“

Also weiter zur außergewöhnlichen narrativen Form des Stücks. „Ist das Stück jetzt geschrieben oder komponiert?“ will der Moderator wissen. Höll erzählt von seiner Liebe zu Techno und House und erklärt das Prinzip seines Textes: „Alle vier Takte kommt etwas hinzu und geht etwas weg“ und „fast jedes Wort und jeder Satz kommt mehrmals“. Er nehme dabei in Kauf, dass die Schauspielerin, die fünf Minuten „La La La“ singe, nervig sein und eine Verweigerungshaltung auf Seiten der Zuschauer:innen provozieren könne. Diese Intensivität bestätigt auch ein Kommentar aus dem Publikum: „Die Beats hallen noch nach.“ (Allgemeines Kopfnicken im Saal). „Eigentlich machen wir zusammen Musik“, bekräftigt auch Schauspieler Andreas Herrmann. Die theatralische Komponente sei erst in den letzten Proben dazugekommen. Die Schauspielerei ist in diesem Theaterstück nicht von der Musik zu trennen und verlangt sowohl von den Zuschauer:innen wie auch von den Schauspieler:innen vollste Aufmerksamkeit.

Der Beat bestimmt die Richtung

„Wir haben am Anfang gedacht, wir schaffen das nicht. Daran hat sich bis zwei Wochen vor der Uraufführung nichts geändert“, erzählt die Schauspielerin Anna Keil. Die besondere Form des Stücks spiegelt sich schon im Text wider, den die Schauspieler:innen am Anfang in der Hand hatten. Neun Spalten, die sich von oben bis unten über das Blatt ziehen. Lesen, wie man es sonst gewohnt ist, ist nicht möglich. „Am Anfang habe ich auf Kästchenpapier geschrieben“, erzählt Wolfram Höll. „Die digitale Excel-Datei hat das Theater selbst gemacht“ (Lacher aus dem Publikum). Die kanonische Form des Stücks habe die Schauspieler:innen einiges an Arbeit gekostet. „Es hat lange gedauert, das zu entschlüsseln,“ sagt Anna Keil. Die Beats des Textes ließen kaum Freiraum für Individualität, alles ist auf den Schlag genau vorgegeben. 

Die Party ist noch nicht vorbei

Die Statik des Stücks spiegelt sich auch in der Gruppe oben auf dem Podium wider, da herrscht kein vertrautes Miteinander. Die Inszenierung hat das Ensemble wohl mehr erschöpft als zusammengeschweißt, jeder spricht für sich, zurückhaltend, einen gemeinsamen Rhythmus finden die Schauspieler:innen in der Diskussion kaum. Der Rhythmus und die herausragende schauspielerische Leistung auf der Bühne haben das Publikum aber überzeugt: „Es handelt sich hier um ein großartiges symphonisches Kunstwerk“, kommentiert eine Zuschauerin. Der Beat sei nie ins Stocken geraten und die Schauspieler:innen hätten mit ihrem rhythmischen Sprechgesang ein Schauspiel der besonderen Art geliefert.

Ob wir die Party in Deutschland schon hinter uns haben, fragt Moderator Sven Ricklefs abschließend. „Wir haben gerade ganz andere Themen – das Insektensterben und den Klimawandel zum Beispiel“, sagt Wolfram Höll und bestätigt damit: Die Party ist noch nicht vorbei, nur ist die Musik gerade ein bisschen leiser gedreht.