12. Mai 2018 •
Der ein oder andere Theaterkenner mag bei den Stücken 2018 ein wenig ins Grübeln geraten sein: „,Vor Sonnenaufgang’ – hab ich das nicht schon einmal gesehen? Und ‚Hotel Strindberg’ kommt mir auch irgendwie bekannt vor…“ Richtig so, denn die Titel haben sich Ewald Palmetshofer und Simon Stone von den Naturalisten Gerhart Hauptmann und August Strindberg entliehen. Und wer bei „Fräulein Agnes“‘ misanthropischem Gemotze aus Rebekka Kricheldorfs Feder nicht sofort an Molières „Menschenfeind“ denkt, der lasse sich vielleicht davon überzeugen, dass die Autorin neben Ingeborg Bachmanns berühmtberüchtigter Aussage, die Wahrheit sei dem Menschen zumutbar, einen Ausschnitt ebenjener Komödie in die Einleitung ihres Stücks setzt. Die Nachricht ist deutlich: Der moderne „Menschenfeind“ ist die zynisch-schimpfende Agnes. Doch warum bedienen sich junge Autoren heute diesen alten Titeln und Figuren?
Über Intentionen von Autoren zu fachsimpeln, bleibt immer nur nebulöse Mutmaßung; den Trend zu analysieren, kann hingegen sehr viel über unsere Gegenwart aussagen. Immerhin gab es ebendieses Phänomen in der Literatur- und Theatergeschichte schon immer: Goethe hat seinen „Faust“ einem alten Mythos entnommen und sich stilistisch immer wieder auf Shakespeare berufen, der britische Dramatiker hat die antike Erzählung von Hero und Leander in Romeo und Julia umbenannt und die beiden Unglücklichen von Griechenland nach Verona umgesiedelt, und Molière orientierte sich stets stark an der Commedia dell‘Arte.
Gesellschaftliche Unsicherheit schürt den Blick nach hinten
Ob in der Weimarer, der Französischen Klassik oder der Renaissance – auffällig ist, dass starke gesellschaftliche Veränderungen und Umwälzungen oft zu ebendiesem Rückbezug auf Klassiker führen. Das ist selbstverständlich einleuchtend und ein natürlicher menschlicher Reflex: Wenn die Welt überfordert, so sucht man eher nach dem, was man bereits gut kennt, statt nach neuen Reizen. Nach einem anstrengenden Arbeitstag sieht man sich die alte Lieblingsserie an, die man schon fast mitsprechen kann, kocht das Essen, das man beinahe im Schlaf zubereiten könnte, trifft sich mit Freunden, mit denen man so vertraut ist, dass man ohne Filter alles sagen kann, was einem so durch den Kopf schießt. Die Flucht in die Vergangenheit, in das Altbekannte also.
Diese These mag für einige Aufarbeitungen von Klassikern zutreffen. Meist jedoch steht ein anderer Faktor im Vordergrund: Klassiker oder die Vergangenheit können helfen, die Gegenwart zu verstehen. Die berühmte These, dass Geschichte immer in Wellen abläuft und sich ständig wiederholt, lässt sich hier gut anwenden. Eine abstrakte Version der Wirklichkeit in der Vergangenheit zu sehen, zu merken, dass einige Motive, Probleme und Gegebenheiten von damals heute genauso aktuell sind, eröffnet einen neuen Blick auf Gegenwärtiges.
Leben wir denn in einer Zeit der Umwälzung, die die Menschen überfordert? Sicherlich. In einer Zeit, in der die politischen Fronten immer radikaler und verhärteter werden, in der sich wissenschaftliche und digitale Revolutionen jeden Tag neu erfinden, in der die globale Politik nicht nur für den Durchschnittsbürger unüberschaubar geworden ist, sondern auch ein Unsicherheitsgefühl tagtäglich propagiert wird, kann diese These wohl aufgestellt werden.
Fassaden von heute und damals
Eben diese Phänomene finden sich auch in Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“: Stritten die alten Freunde Loth und Hoffmann bei Hauptmann noch über Alkoholismus und die soziale Situation von Bergleuten, sitzen sich hier zwei ehemalig-linke Gesinnungsbrüder gegenüber und sind auseinandergedriftet – Loth immer noch links, Hoffmann rechts-konservativ, der eine idealistisch und einsam, der andere realistisch und bürgerlich behütet. Doch der behütete Schein trügt: Hoffmanns schwangere Frau ist depressiv, sein erfolgreicher Schwiegervater dem Alkohol verfallen. Im Laufe des Stücks brechen die mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden auf und dahinter stehen nur Menschen, die verzweifelt versuchen, mit ihrem Leben fertig zu werden.
„Vor Sonnenaufgang“ erzählt heute wie damals von dem, was hinter den Fassaden steckt und dem Kampf des Individuums gegen die Welt. Palmetshofer erzählt vom heutigen Schwanken zwischen Extremen, davon, dass es leicht ist, in Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken, in Links und Rechts, aber dass bei genauerem Hinsehen doch nur Menschen übrig bleiben, die versuchen, sich in der chaotischen Welt zurechtzufinden. Hauptmann erzählte damals von der zerstörerischen Macht des Alkohols, von Heuchelei und Verdorbenheit hinter der gutbürgerlichen Oberfläche. Es wird eine Parallele zwischen heute und der Industrialisierung geschaffen, einer Zeit, in der sich alles veränderte, ganze Berufsfelder wegfielen, tausende Menschen ihre Arbeit verloren und Angst vor der Zukunft hatten. Ob aus einer gewissen Nostalgie heraus oder nicht: Palmetshofer zeigt, dass die moderne Angst, die modernen Fassaden gar nicht so weit von denen zu Zeiten Hauptmanns entfernt sind, und das eröffnet einen neuen Blick auf unsere Gegenwart. Vielleicht hilft es sogar, sich selbst ein bisschen besser in dieser chaotischen Welt zurechtzufinden.