Krieg und Spiele


Autor*innen

Das Bühnenbild der Heidelberger Inszenierung ist schlicht: Eine breite, schwarze Treppe, die sich von der einen zur anderen Seite der Bühne zieht und hinter der ein Kopf hervorsieht. Er ist einer der Menschen aus Ulro, einem Fantasieland, das sich Milisavljevic von William Blake entliehen hat und das vollkommen künstlich und nur auf Basis logischer Gesetze erbaut ist. Verkopft also – ein Land, in dem Körper und Emotionen schweigen und nur Köpfe sprechen, ein Land, das unserer Welt den dystopischen Spiegel vorhält. „Ich atme nicht mehr“, sagt der Kopf von Schauspieler Hendrik Richter. „Nur wenn sie schauen.“ Bereits zu Beginn des Stücks wird klar, dass er, dass die Menschen Ulros nur durch ihre Außendarstellung existieren, dass sie sich zu inszenieren, als jemand anders zu präsentieren versuchen und einander ihre Gefühle und alles, was sie wirklich sind, verheimlichen wollen.

Inszenierung der flüchtigen Oberfläche

Für diese unechte Selbstdarstellung benutzen die Verkopften ihre Körper: beim Posen für Selfies, beim Verrenken in Yoga-Positionen, beim Dance Aerobic, beim exzessiven Tanzen zu klischeehaftem Dance-Pop und beim Fitness-Workout. Die sechs Schauspieler winden sich über die Stufen der Bühne, hüpfen, joggen, machen den herabschauenden Hund und den Sonnengruß. Sie bewegen sich auf all die Arten, die in sozialen Netzwerken einen gesunden, fitten Lifestyle propagieren. All die Arten, wie man sich in einer Wohlstandsgesellschaft bewegt, aus einem reinen Selbstzweck heraus – Bewegung um der Bewegung willen. Denn niemand tut wirklich etwas, obwohl alle permanent in Bewegung sind. Ebenso wie die Welt, die durch ein düsteres Beben immer wieder erschüttert und in Bewegung gebracht wird.

Als eine Nachbarin auf der Straße stirbt, schießen diese Menschen Fotos und retweeten statt zu helfen, lassen die Frau liegen, bis sie irgendwann halb zerfallen ist. Sie beklagen die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge, das Erdbeben in Nepal, aber gehen blitzschnell zum nächsten Thema über. Sie sind geschockt über die Erschießung eines kleinen Jungen, direkt nachdem der Schuss fällt, folgt aber laute Musik, zu der die Personen wild tanzen, heißt es: „I don’t care, I love it!“. Denn eigentlich interessiert sie keine der Tragödien, keine berührt sie wirklich. Die Anteilnahme ist lediglich flüchtig, lediglich inszeniert, lediglich an der Oberfläche.

Hektische Timeline im schlichten Gewand

Das Stück ist wie die schnellen, oberflächlichen Diskurse im Internet: Die Retweets, die Schwarm(un)intelligenz, die typische Internetironie und vor allem das Tempo – die Aufmerksamkeitsspanne sei mittlerweile auf „eine Minute 32“ gesunken – konstruieren eine Welt, in der mediale und reale Wirklichkeit zu ein- und derselben Wahrnehmung verschmelzen. Dort spielt man trotz Krieg und Zerstörung nur noch kurz das Level zu Ende, dann hat man Zeit, baut sich wie in Minecraft am „Crafting Table“ aus verschiedenen Elementen das zusammen, was gerade gebraucht ist: „Angst + Millionen von Steuergeldern + geheime Wirtschaftsinteressen. Schwupp: M16.“ Das Leben ist zu einem Spiel geworden; der Soldat wird von seinen Mitmenschen angezogen und aufgestellt wie für ein „Call of Duty“-Cover, das nächste Level erscheint genauso wirklich und wichtig wie der Tod eines Kindes.

Es wäre auf den ersten Blick naheliegend, diese mediale Informations- und Reizüberflutung der Charaktere durch das Zeigen ebensolch exzessiv-überfordernder Bilder in der Inszenierung auszudrücken. Erich Sidler wählt jedoch einen anderen Weg: Er setzt auf schlichte Kostüme, schlichtes Bühnenbild und die simple Reaktion der Körper auf diese Welt. Das lässt Milisavljevics dichter, schneller Sprache Raum und beraubt die Zuschauer:innen der Versuchung, sich einfach nur lustvoll bunten, medialen Eindrücken hinzugeben, wie die Figuren es tun. Diese wohlige Ausflucht verweigert die Inszenierung und zwingt den Blick auf das, was zwischen all den Reizen und der Selbstdarstellung noch übrigbleibt: einsame, hilflose Menschen.

Leben in der Außendarstellung

Denn in Monologen wird deutlich, dass die Selbstdarstellungen falsch sind. Dass die Menschen Ulros falsche Produkte einkaufen, um nicht beim Zögern gesehen zu werden, oder an falschen Haltestellen aussteigen, um nicht zugeben zu müssen, dass sie sich nicht auskennen. Dass sie sogar insgeheim davon träumen, vergewaltigt zu werden, nur um daraufhin im Internet Anerkennung und Zuspruch zu bekommen. Um jemand zu sein, um einen Platz in der Welt zu haben, um dorthin zu gehören. In Sidlers Inszenierung sind es jedoch eigentlich keine Monologe: Sie werden stets von mehreren Personen gesprochen, manchmal abwechselnd, manchmal beinahe chorisch, aber doch leicht versetzt, sodass sie nie wirklich zusammen sprechen – und miteinander erst recht nicht.

Wenn sich zwei Frauen im beinahe gleichzeitig gesprochenen Monolog darüber auslassen, dass niemals jemand wissen wird, wie es ihnen eigentlich gehe, und sie dabei beide im Singular sprechen – es geht nur um „mich“ – dann wird klar, dass es sich hierbei um Individuen handelt, die trotz gemeinsamer Probleme vollkommen voneinander abgeschottet und unfähig sind, miteinander über irgendetwas anderes zu kommunizieren als die Dinge, die sie mit der Welt teilen wollen. Die einzige Ausnahme bildet die Mutter des toten Kindes – sie bietet dem Soldaten, der ihren Sohn erschossen hat, die Hand an und zeigt damit das, was wirklich in ihr vorgeht: Trauer, Wut. Es ist aber auch der Versuch aufeinander zuzugehen und zu vergeben. Das Widerstreben, mit dem der Soldat sie ergreift, ist das Widerstreben, es ihr gleichzutun und auch die Oberfläche zu durchbrechen.

Wie instabil diese Selbstinszenierung ist, wird am deutlichsten im titelgebenden Beben. Es erschüttert die Personen, lässt sie unkontrolliert zucken und nimmt ihnen so die Macht darüber, wie genau sie sich nach außen hin darstellen. Immer wieder liegen die Personen am Boden und zucken wie unter Stromschlägen, wie Menschen, die künstlich wiederbelebt werden sollen. Menschen, die nur durch Elektrizität, durch ihre Außendarstellung, durch ihre eigene mediale Inszenierung überhaupt noch leben. Menschen, die nur atmen, wenn jemand anderes zusieht.