22. Mai 2018 •
Obwohl das Publikum während der Darbietung des Stückes zu heiterem Gelächter aufgelegt war, ist die Stimmung beim anschließenden Gespräch eher zurückhaltend. Zum Einstieg in die Diskussion stellt Moderator Vasco Boenisch die Frage, wie viel (Un-)Ehrlichkeit in uns allen stecke und wie viel von Rebekka Kricheldorfs eigener Persönlichkeit mit in die Hauptfigur eingeflossen sei. „Eine meiner Top-Hassfragen“, erwidert die Autorin witzelnd, bevor sie dem Publikum erzählt, dass sie zwar gut mit Ehrlichkeit umgehen könne, aber selber manchmal gerne ehrlicher wäre.
Wie „Fräulein Agnes“ entstanden ist, wird von Regisseur Erich Sidler erklärt. Es handele sich um die Weiterführung einer Arbeit des Deutschen Theaters Göttingen (vermutlich die Inszenierung von Kricheldorfs „Homo Empathicus“, 2015 ebenfalls in Mülheim eingeladen), bei der es um „Political Correctness“ und um das Ausweichen von Konflikten ging. Bei Fräulein Agnes bekommt das Thema einen neuen Dreh: Der vermeintlichen Heuchelei im Kulturbetrieb wird die ins Extreme getrieben, fast wahnhafte Ehrlichkeit der Kritikerin Agnes entgegengesetzt. Die Gegenwärtigkeit von Heuchelei im Kulturgeschäft wird auch von Konstanze Hörling bemerkt, die an einer Kooperation von Regiestudierenden der Folkwang-Universität mit dem Festival teilnimmt und die erste Publikumsfrage stellt. Sie meint, das Stück packe uns „in einem akuten Moment“. Wir erfahren von der Autorin, dass für „Fräulein Agnes“ keine spezifische Recherche nötig war, weil kritische Einschätzungen zum Kulturbetrieb „überall so rumschwirren“. In einer kleinen Anekdote kommt zutage, dass sogar die Mülheimer Jurydebatten aus den vergangenen Jahren Kricheldorfs Text inspiriert hätten.
Arbeitsweise à la Thomas Mann
Dass sie ausgerechnet die Künstlerszene zum Spielort der Unaufrichtigkeit gemacht hat, ist mit einer Selbstkritik verbunden. Gerade dieses Milieu, die Theaterwelt eingeschlossen, nehme oft eine Haltung ein, in der die Welt „von oben herab“ kritisiert werde (anbei lässt uns der Regisseur wissen, dass das Göttinger Publikum durchaus in der Lage war, die Vorgänge der Künstlerszene auf andere Milieus, wie z.B. das der Ärzteschaft, zu übertragen). Mit dem Punkt der Unaufrichtigkeit und den im wahrsten Sinne des Wortes daraus folgenden Verrenkungen des Einzelnen kommen die Diskutierenden auf die Metaebene des Stücks zu sprechen– das Theater im Theater. Erich Sidler erläutert, dass die Theatralität der Inszenierung vor allem in den körperlichen Performances präsent sei. Das Überzogene und Körperliche solle in Anlehnung an die Stückvorlage des „Menschenfeinds“ von Molière eine zeitgenössische Form der barocken Tradition schaffen. Distanz zu Molières Werk nimmt Rebekka Kricheldorf durch den Geschlechterswitch. Die Wahl einer weiblichen Misanthropin und Großkritikerin funktioniere als Experiment und diene dazu, Klischees abzuhängen.
Das bisher sehr ruhige Publikum beginnt sich zu regen. Die Frage an Rebecca Klingenberg, wie lange es gedauert habe, die Monologe auswendig zu lernen, gibt den Anstoß über den Text an sich zu sprechen. Klingenberg sieht in Kricheldorfs Stück die Charakteristik eines guten Theatertexts: Ihrem Gefühl nach habe sich der Text gut lernen lassen, weil die Sätze einander so natürlich folgten, als wären einzig sie für diese Stelle bestimmt. Erich Sidler spricht in diesem Sinne von einer „präzisen Setzung“, ja von einer „Verdichtung des Textes“. Tatsächlich seien vom Ensemble so gut wie keine Änderungen vorgenommen worden, bei den Proben sei alles schon fertig gewesen. Lässt Frau Kricheldorf etwa nicht mit sich reden? Das Ensemble lacht. Jedenfalls, darauf weist der Moderator hin, sei sie eine sehr disziplinierte Autorin. Zwei Stücke bringt sie pro Jahr zustande. Zum vierten Mal ist sie nun schon in Mülheim nominiert. Diese Produktivität könnte an einer Arbeitsweise à la Thomas Mann liegen, strukturiert von festen Arbeitszeiten. Humorvoll gesteht Rebekka Kricheldorf ein, dass man sich ihr Vorgehen „manchmal total unsexy“ vorstellen könne, so gar nicht „rock’n’roll-mäßig nachts mit einer Flasche Rotwein“.
Jede Absolutheit führt zur Katastrophe
Besonderes Interesse widmet das Publikum den Figuren des Stückes: „Was hat es mit Elias auf sich?“. Als Schauspieler Florian Donath zugibt, dass er selbst beim Lesen des Stückes seine eigene Figur nicht zuordnen konnte, geht ein Schmunzeln durch die Reihen. Für seine Kollegin Angelika Fornell (die die Rolle der Fanny übernahm) sehen die Dinge ganz anders aus. Ihre allererste Assoziation war eine Narrenfigur in Stil Shakespeares. Klar war für sie auch, dass die Figur des Elias einen Gegenentwurf zu Agnes darstelle. Selbst wenn beide Charaktere, wie Erich Sidler formuliert, ihre „Konzepte sehr konsequent leben“, so kann Elias die Wahrheit besser verpacken als Agnes und eine Balance zwischen sich und der Gesellschaft finden. Agnes hingegen scheitere bei dem Versuch, „die Welt zu flicken“.
Es wird auch der Konflikt zwischen Mutter und Sohn vom Publikum angesprochen, der eine Zuschauerin besonders berührte. Rebekka Kricheldorf stimmt dem zu, die zentrale Bedeutung dieses Konflikts liege in der „Brutalität des ehrlichen Konzepts“. An das Stichwort der Brutalität knöpft Schauspielkollege Florian Eppinger an, für den der Kern des Problems in der Absolutheit verankert ist. „Jede Form von Absolutheit führt zur Katastrophe“, denn das Absolute an sich existiere nicht und sei somit unmenschlich. „Was bleibt, ist nur das Bemühen um Ehrlichkeit.“
Eine Abschlussfrage bringt schließlich noch etwas Bewegung aufs Podium und auch ins Publikum. „Gibt es Rettung für Agnes?“. Florian Donath sieht einen Hoffnungsschimmer in Elias, der bis zum Ende Vertrauen in die alleingelassene Agnes setze. Rebekka Kricheldorf ist sich da nicht so sicher. Sie verweist auf den Schlussmonolog, in dem sich Agnes ganz klar im Menschenhass vergrabe. Schließlich erfahren wir, dass in der ursprünglichen Textvariante der Anfangs- und der Schlussmonolog zusammengefasst waren. Die Aufsplitterung dieser Passage stelle zwei Einstellungen gegenüber: Das „lustvolle Herziehen“ über die Menschen am Anfang entwickele sich zu leerer „Verbitterung“. Dem pflichtet auch die letzte Stimme des Publikums bei, die wie die Autorin kein Entkommen für Agnes aus ihrer artischockenhaftigen „Stacheligkeit“ sieht. Ein pessimistisches Fazit zum Abschluss dieser Publikumsdiskussion.