Gib mir ein Zeichen!


Diskurs

„Alles redet dann von mir. So künstlich. In Reimen sogar manchmal“, beschreibt Ronald Rupp in Thomas Melles Stück „Versetzung“ die ersten Anzeichen dafür, dass es wieder losgeht, dass ihn seine Erkrankung wieder einholt. Der Lehrer leidet an einer manisch-depressiven Störung, einer Erkrankung, die man sein Leben lang mit sich herumträgt, selbst wenn sie über Jahrzehnte symptomfrei bleiben kann.

Genauso geht es auch Ronald Rupp: Seit zehn Jahren lebt er ohne Beschwerden, bis die auf seinen Erfolg neidischen Kollegen von seiner Erkrankung erfahren. Der Stress, den die Konfrontation mit Vorurteilen und Stigmatisierung anschließend mit sich bringt, löst einen neuen Ausbruch der Manie aus. Und wirklich: Alle Figuren sprechen in Reimen, bevor die Sprache anschließend in unzusammenhängende Einzelteile zerfällt.

Poetische Manie

Das ist bemerkenswert. Denn Reime sind natürlich kein wirkliches Symptom dieser Erkrankung, wie Melle im Publikumsgespräch im Anschluss an die Mülheimer Aufführung erklärte – es ist lediglich eine Stilisierung und eine Darstellung, die der Autor wählt. Es unterstreicht, dass manisch-depressive Störungen oft als „Dichterkrankheit“ verstanden werden, wie auch Rupps Direktor sie im Stück nennt. Dies bezieht sich natürlich vor allem darauf, dass viele bekannte Dichter und Autoren irgendwann während ihres Lebens an dieser Erkrankung litten. Allerdings hat dieser Ausdruck bei Melle noch tiefergehende Bedeutung, denn er zeichnet die manisch-depressive Störung als eine sehr poetische Krankheit, eine Krankheit, die viel mit Literatur gemeinsam hat – sowohl in seinem Stück „Versetzung“ als auch in dem autobiografischen Roman „Die Welt im Rücken“, in dem er in verschiedenen Episoden über 17 Jahre hinweg von seinen subjektiven Erfahrungen mit der Erkrankung berichtet.

Wenn Melle seine erste manische Phase beschreibt, wird das Literarische der Störung explizit benannt: „Ich studierte liegengebliebene Briefe und verstand nichts. Sie sagten etwas anderes aus, als sie aussagten, nicht wahr? Als Literaturstudent war ich mit der metaphorischen Seite der Dinge mehr als vertraut, aber diese Metaphorik hier schien allumfassend und schlichtweg bösartig. Die einfachsten Sätze logen.“ Er beschreibt hier den Wahn des Suchens nach Zeichen, nach tieferer Bedeutung. Den Versuch, Dingen mehr als ihren tatsächlichen Sinn zu geben, weil er den nicht mehr versteht, und sie auf eine metaphorische Ebene zu heben. Diesen Verlust des tatsächlichen, greifbaren Sinns von Dingen beschreibt Melle später, als würden alle anderen in einer fremden Sprache sprechen, für die er „keine Grammatik, kein Lexikon“ habe, die zu verstehen für ihn deshalb unerreichbar sei. Dieser Vergleich zeigt schon einen ersten Bezug von Literatur und Sprache zu der Manie: Der Betroffene spricht eine andere Sprache als der Rest der Welt, versteht niemanden – und da Sprache letztlich nur aus Zeichen besteht, die etwas anderes beschreiben sollen, für etwas anderes stehen, benutzt er schlicht und einfach nur andere Zeichen.

Sowjetische Tierzucht, religiöse Ringe

Er nehme die Welt nur noch auf der metaphorischen Ebene wahr. Ebenso wie Ronald Rupp es in „Versetzung“ sagt, beschreibt auch Melle in „Die Welt im Rücken“, dass sich in seinem Kopf dann alles auf ihn selbst beziehe: Werbung, Nachrichten, Internetposts, Gespräche von Fremden in der U-Bahn, Bücher, Filme, Theaterstücke. „Ich war in einer Kammer aus Zeichen gefangen, die ihren Karneval mit mir feierten, mit mir als Prinz, Narr und Funkemariechen zugleich“, schreibt er. Alles in der Welt um ihn herum bekommt eine zweite Ebene, auf der er selbst gemeint sein könnte. Alles wird mit Zeichen versehen – ebenso wie in der Literatur.

Denn auch in der Literatur und im Theater wird viel mit der symbolischen, der assoziativen und doppeldeutigen Sinnkonstruktion von Dingen gespielt. Eine Rose steht für Liebe, eine Tierfarm für die Sowjetunion (Animal Farm von George Orwell), drei Brüder für die drei monotheistischen Religionen (Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“), die Gretchenfrage für eine Debatte über Religion und wissenschaftliches Aufklärertum und die Frage nach einem reinen Gewissen (Goethes „Faust“). Das Spiel mit diesen Ebenen ist fast essentiell für Literatur und Theater: Poetische Sprache muss geradezu symbolisch sein, modernes Theater funktioniert kaum noch naturalistisch und selbst dann bleiben immer noch Zeichen, die weiterführende Assoziationen beim Zuschauer provozieren. Literatur und Theater leben geradezu von Symbolen und Zeichen.

Zeichen und Symbole

Der russisch-amerikanische Autor Vladimir Nabokov, der vor allem für seinen Roman „Lolita“ bekannt wurde, hat genau darüber eine, in diesem Zusammenhang sehr interessante Kurzgeschichte geschrieben: „Zeichen und Symbole“ (org. „Signs and Symbols“). Sie behandelt ein altes Paar, dessen Sohn in ein Sanatorium eingeliefert wurde. Seine psychische Krankheit ist titelgebend: Er sieht alles in Zeichen und Symbolen und kann nichts wörtlich nehmen. Er leidet an der vom Autor erfunden, psychischen Erkrankung einer „referentiellen Manie“. „Der Patient stellt sich vor, dass alles, was geschieht, um ihn herum ein versteckter Hinweis auf seine Persönlichkeit und Existenz ist“, heißt es in der Kurzgeschichte. 

Nabokovs Erzählung wird von vielen Literaturwissenschaftlern als eine Kritik an der Literaturrezeption verstanden, dem ständigen Wunsch, Zeichen und Symbole im Text zu suchen, und der Gefahr, dabei die eigentlich wichtigen Themen vollkommen aus den Augen zu verlieren. Und einmal ganz abgesehen davon, dass Nabokov, wie in „Die Welt im Rücken“ zu finden ist, einer von Melles Lieblingsautoren ist, illustriert die ähnliche Art und Weise, mit der die erdachte „referentielle“ und die tatsächliche Manie beschrieben werden, dass diese psychische Störung bei Melle eben eine literarische ist. Eine wahre „Dichterkrankheit“.