Es sind auch nur Menschen


Diskurs

Fräulein Julie bei Strindberg, Emilia Galotti bei Lessing oder Luise bei Schiller in „Kabale und Liebe“.

Diese Frauen sind die Protagonistinnen der Dramen von Autoren aus einer Zeit, in der Frauen nicht viel gelten. Frauen sollen tugendhaft sein sowie moralisch handeln. Und sind sie es nicht, dann passiert etwas Schlimmes.

In den Dramen sind die Frauen die Opfer, die Schwachen, die von Männern gelenkten, mit sensiblen Gemütern, die Tugendhaften, die Schuldigen allen Übels oder von Hysterie befallen. Zugegeben, das war das Frauenbild zu den jeweiligen Zeiten. Oder das Bild, was sich die männlichen Dramatiker von Frauen gemacht und in ihre Dramen übernommen haben. Das kann man nun nicht mehr als zeitgemäß bezeichnen.

#metoo und Trump-Wahl

Im letzten Jahrhundert hat sich einiges getan: Es herrscht Gleichberechtigung, Frauen haben das ihnen aufgedrängte Rollenbild durchbrochen und treten nun als starke Persönlichkeiten in Erscheinung. Vor allem die Debatten um #metoo haben die Aufmerksamkeit auf Frauen gelenkt und gezeigt, dass sie nicht mehr alles mit sich machen lassen. Sie haben sich gewehrt. Was bedeutet das nun für die neue Dramatik? Man sollte meinen, dass auf solche Bewegungen reagiert wird, so wie beispielsweise direkt auf die Trump-Wahl reagiert wurde. Betrachtet man nun die nominierten Dramen der Mülheimer Theatertage, fallen zwei Sachen auf: Zum einen bedienen sich die Autor:innen oft weiblicher und männlicher Stereotype und zum anderen fehlen weibliche Titelheldinnen. Außer bei „Fräulein Agnes“ steht keine Frau im alleinigen Mittelpunkt.

Aber das kann nur Zufall sein. Zieht man den Kreis größer und schließt weibliche Hauptfiguren ein, so landen wir bei insgesamt 3 ½ Stücken, in denen Frauen eine wichtige Rolle spielen: Neben „Fräulein Agnes“ wären das „Vor Sonnenaufgang“, „Homohalal“ und zum Teil „Versetzung“. Was für ein Frauenbild wird uns im Rahmen dieser Stücke vermittelt?

In „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer gibt es drei Frauenfiguren: die Mutter und ihre zwei Töchter. Annemarie Krause lebt ihr tristes Eheleben und schafft es nicht, sich von ihrem Mann zu trennen. Martha ist depressiv und erleidet eine Fehlgeburt, was zum psychischen Absturz führt. Helene kehrt als erfolglose Karrierefrau ins Elternhaus zurück. Von starken, emanzipierten Frauen fehlt jede Spur. Alle drei sind gescheitert und gebrochen.

Auch wieder drei Frauenfiguren bei Ibrahim Amirs „Homohalal“ (Ghazala, Barbara und Albertina). Drei scheint die magische Zahl zu sein. Ghazala ist eine Mutter, die eine steile Karriere von einer Geflüchteten zur Staatsanwältin macht, zwei Söhne hat, für die sie einsteht, und sich gegen ihren Mann wendet. Doch am Ende zückt sie die Waffe und lässt einen extremistischen Monolog los. Sie löst den Konflikt, doch sympathisch ist sie aufgrund ihrer Aussagen nicht. Sie wirkt eher wie eine Verrückte. Barbara wird verurteilt, weil sie nicht heiraten wollte. Ihren Gründen steht man skeptisch gegenüber. Sie ist nun ohne Ehe, hat nur ihre Religion, die sie nicht wirklich versteht, und ist einsam. Albertina ging fremd, als Strafe wird sie geschlagen, sie lässt sich scheiden, doch für diese Scheidung wird sie kritisiert. Ist der Schlag eine gerechtfertigte Reaktion auf das Fremdgehen? Laut den männlichen Anwesenden ja. Nun trauert sie um den gewalttätigen Ex-Ehemann und versucht, stark zu bleiben, verblasst aber gegenüber den anderen Figuren.

„Versetzung“ von Thomas Melle hat auch drei Frauen (wieder die magische Zahl): die Lehrerin Inga Römmelt, die Mutter Cordsen und die Ehefrau des Lehrers, Kathleen Rupp. Die Schülerin Sarah wird an dieser Stelle aufgrund ihres jungen Alters außer Acht gelassen. Die Lehrerin bewegt sich im Hintergrund bis sie am Ende den Posten als Direktorin bekommt. Ganz unschuldig und ohne Hintergedanken? Unwahrscheinlich. Sie muss sich im männlich dominierten Lehrerzimmer behaupten. Die besorgte Mutter einer Schülerin ist mitverantwortlich für den Sturz des Lehrers und wird als Frau dargestellt, die verzweifelt nach Liebe und Anerkennung giert, aber dann mit der Abweisung nicht zurecht kommt. Die Ehefrau ist zunächst die schwangere Heilige. Sie trägt die Frucht des Lebens in sich, die jedoch durch den Mann und dessen psychische Krankheit verdorben sein könnte. Am Ende wendet sie sich vom Mann ab. Natürlich darf der Mann das Kind besuchen, wenn es ihm besser geht. Aber sie wird es alleine großziehen. „Versetzung“ wird in diesem Beitrag nur als „halbes Stück“ berücksichtigt, weil die Frauen keine Hauptfiguren sind. Eigentlich gibt es nur eine Hauptfigur: den Lehrer. Da der Fokus auf ihm liegt, können die Frauen nicht tiefgehend betrachtet werden.

Dann schlussendlich die Rettung durch „Fräulein Agnes“ von Rebekka Kricheldorf? Als titelgebende Figur, selbstbewusste Frau, die sich nicht davor scheut die Wahrheit auszusprechen, und als eigenartig liebende Mutter hat sie großes Potential als Feministin. Doch feministische Themen werden zugunsten des Oberthemas des Leitthemas, der Frage nach Wahrheit und Heuchelei nicht angesprochen. Gut für das Stück, schlecht für den Feminismus. Agnes könnte außerdem auch ein Mann sein, da die Themen auch aus Sicht eines Mannes behandelt werden könnten.

Verschwimmende Grenzen

Es mag Zufall sein, dass diese Stücke ohne starke Frauenfiguren ausgewählt wurden. Insgesamt fehlt es jedoch in der neuen Dramatik an diesen. Oft sind sie noch geprägt von klassisch-bürgerlichen Geschlechterrollen und Stereotype. Wäre es nicht einmal revolutionär, die Männer- und Frauenfiguren miteinander zu vermischen? Das würde nicht nur dem Frauenbild, sondern auch dem Männerbild gut tun. Denn genauso wenig, wie die Frauen immer die Opfer sind, sind die Männer immer die Täter. Bei den Stücken in Mülheim sind auch einige Männer die Gebrochenen, die von der Gesellschaft Verstoßenen. Dennoch sind die Stereotype von Frauen und Männern noch sehr häufig in Dramen vertreten. Eine Umstrukturierung nicht nur auf weiblicher, sondern auch auf männlicher Ebene würde den zeitgenössischen Dramen sicher mehr Schwung geben. Genauso wie manche Menschen keiner dieser Kategorien zugeordnet werden wollen und es so doch werden. Natürlich ist es manchmal einfacher und je nachdem, wessen Geschichte man erzählt, auch besser, sich Klischees zu bedienen. Dennoch reihen wir uns dann in die Texte von Strindberg und Schiller ein, die ein Menschenbild zeigen, das zu eindimensional gedacht ist. Ich würde mich über mehr Figuren freuen, die nicht primär als Mann oder Frau zu sehen sind, sondern als Menschen. Denn Frau- oder Mann-Sein entzieht sich einer Definition, indem man einfach ein Mensch ist. Eine Frau muss keine rasierten Beine haben, ein Mann keinen Bart. Manspreading gibt es auch bei Frauen, Männer können ihre Beine überschlagen und so weiter.

Künstlerische Freiheiten sind erlaubt und notwendig, aber man sollte sich vor Augen führen, womit die Kunst anfangen kann: mit Klischees zu brechen. Dann zieht die Gesellschaft vielleicht nach. Und wäre eine Welt ohne Klischees und Vorurteile nicht schön?