Auf der Kippe


Gespräch

Tosender Applaus. Nach zwei Stunden ist die Inszenierung vorbei. Doch die behandelten Themen enden nicht mit dem Beifall. Die aus dem Theatersaal strömenden Zuschauer:innen debattieren eifrig über das Gesehene und Gehörte. Neben weniger konkreten Aussagen wie „Ach, war das schön“ werden auch einige prägnante Szenen wie das Aquarium oder der Gewaltausbruch am Ende des Stückes diskutiert. Auch zu Beginn des Publikumsgesprächs ist der Gesprächsbedarf noch nicht gedeckt. Der Wunsch nach Austausch ist an diesem lebendigen Abend sehr präsent.

Zwei zentrale Details der Bühne sind vielen besonders in Erinnerung geblieben: das Aquarium und die Tafel im Hintergrund mit der sich nach und nach vervollständigenden Textprojektion. „If man is five / then the devil is six / then God is seven“, war dort am Ende zu lesen. Ein Besucher wagt beim Publikumsgespräch den Vorstoß und fragt die Bühnenbildnerin Johanna Pfau direkt nach ihrer Intention und dem Sinn der beiden Bühnenelemente. Pfau berichtet, dass sie das Aquarium schon beim ersten Lesen im Kopf gehabt habe. „Für mich ist es so was wie ein Mikrokosmos unserer Welt.“ In dieser kleinen, abgeschlossenen Welt schwimme man in der vertrauten Umgebung die routinierten Kreise. Es sei das Bedürfnis nach Sicherheit. Doch dann entstehe der Wunsch nach Ausbruch und es kippe. Man erkenne, dass es ein von Menschen gemachtes Gefängnis sei. Dass die Tafel und der projizierte Text oft nicht verstanden werden, habe Pfau in Kauf genommen. Der Text stamme aus dem Lied „Monkey Gone Heaven“ von der Band „Pixies“. Sie finde den Text sehr treffend für das Stück. Es sei ihr wichtig, die Regeln, die von der Gesellschaft aufgestellt werden, zu brechen. Bei der Inszenierung erkenne man zunächst nur die Zahlen, später kommen an zentralen Stellen nach und nach die restlichen Worte hinzu. Der Autor Thomas Melle, der sich als Fan der „Pixies“ zu erkennen gibt, ergänzt: „Das Aufblähen von kleinen Fakten in große, dämonische Darstellungen“ werde durch den Songtext verstärkt, den er aber nicht in die Regieanweisungen geschrieben habe, sondern Produkt der Bühnenbildnerin sei. Dennoch bedenke er beim Schreiben die szenische Darstellung mit. Man müsse „strategisch vorgehen“, um abzuschätzen, was der:die Regisseur:in bei der Umsetzung berücksichtigen werde und was nicht. Der Autor versuche, das zu beeinflussen und freue sich, wenn dann Details wie die Beschriftung des Jutebeutels verwendet werden.

Schule als Mikrokosmos

Eingangs betont Moderator Vasco Boenisch, dass dies nun die zweite Nominierung des Autors bei den Mülheimer Theatertagen ist. Mit „Bilder von uns“ war er auch schon 2016 vertreten. Neben seiner Tätigkeit als Dramatiker ist Thomas Melle auch als Romanautor bekannt. Die Idee zu diesem Stück hatte er der eigenen Aussage nach, bevor sein Roman „Die Welt im Rücken“ herauskam. „Was wie ein Nachzügler erscheint“, erklärt Melle, „ist ein ganz anderer Ansatz.“ Während es sich bei dem Roman um eine subjektive Beschreibung der Krankheit handele, habe ihn bei dem Drama der Blick von außen interessiert. Hier sehe man „die mikrosozialen Dynamiken einer Schule, was dazu führt, dass die Krankheit wieder ausbricht.“ Beim Schreiben habe er auch eine TV-Serie vor Augen gehabt.

Dass es noch mehr Themen zu diskutieren gibt, zeigt sich immer wieder während des Gesprächs. Obwohl die Redner:innen auf Fragen des Moderators oder des Publikums antworten, tuscheln immer wieder Besucher:innen miteinander. Das geschieht mal leiser, mal lauter. Die meisten stört das nicht, sie verfolgen gespannt die Unterhaltung auf dem Podium, das heute ganz schön voll ist: Die neun Schauspieler:innen, der Autor Thomas Melle, die Regisseurin Brit Bartkowiak, die Bühnenbildnerin Johanna Pfau und der Dramaturg David Heiligers zeigen sich sehr offen, beantworten jede Frage ausführlich und nehmen auch auf die Aussagen der Kolleg:innen Bezug. Zusammen mit dem Publikum entsteht so ein lebendiger Dialog statt einem bloßen Frage-Antwort-Gespräch. Dass sich Publikum und Autor auch nicht immer einig sind, zeigt sich bei der Frage, ob eine bipolare Erkrankung noch immer ein Tabuthema sei. Dem spontan zwischengerufenen „Nein“ einer Besucherin hält der Autor ein „Ja“ entgegen. Seiner Meinung nach sei es noch immer negativ besetzt. Doch es werde immerhin mehr und mehr darüber geredet, was lange Zeit nicht so gewesen sei.

Die Frage nach dem „Opfer“

Eine Frage des Publikums stammt von einer Teilnehmerin der Übersetzerwerkstatt. Sie fragt den Schauspieler Daniel Hoevels, wie er seine Figur des Lehrers Ronald Rupp in Hinblick auf die im Stück thematisierte Täter-Opfer-Dichotomie entwickelt habe. Zu Beginn des Stücks monologisiert der Lehrer vor seiner Klasse über den Gebrauch des Begriffs „Opfer“ als Schimpfwort. Daniel Hoevels meint, dass der Lehrer am Anfang das Lehrbeispiel benutze, um es den Schülern pädagogisch an die Hand zu geben. „Am Ende definiert er sich selber als Opfer, als einziges Subjekt, somit ist die ganze Welt der Täter.“ Es löse sich so von dem Lehrbeispiel ab. Der Schauspieler meint, dass es am Anfang noch die Bezeichnung „Opfer“ aus juristischer Sicht sei und später eher aus „religiöser Opfergabe“. Daraufhin erzählt die Übersetzerin von ihrer Erfahrung in der Übersetzerwerkstatt. In einer Diskussion mit ihren Kolleg:innen sei die Frage aufgekommen, ob Ronald ein „victim“ (geschädigte Person) oder „sacrifice“ (religiöse Hingabe) sei. Das spiele bei den Sprachen einiger Übersetzer:innen eine wichtige Rolle. Im Deutschen gebe es dagegen nur das Wort „Opfer“. „Vielleicht kann man zwei nehmen“, schlägt der Schauspieler der französischen Übersetzerin vor.

Am Rande des Abgrunds

Vielen Besucher:innen ist schon während der Inszenierung aufgefallen, dass es einen Bruch in der Erzählung gibt. In der ersten Hälfte ist vor allem die Sprache noch sehr sachlich und ausführlich, später werde sie poetischer, aber auch chaotischer. Das zeige sich auch bei den Figuren. Einige Besucher:innen aus dem Publikum empfinden die Figuren als satirisch und klischeehaft. Ihre Darstellung werfe zudem die Frage auf, ob sie letzten Endes nicht ebenfalls psychisch krank seien. Die Künstler:innen erklären diese Diskrepanz so, dass es sich hier um „Kippfiguren“ handle. Der Dramaturg David Heiligers versichert, dass das Spiel mit den Stereotypen beabsichtigt sei. Jede Figur sei auf mögliche psychische Erkrankungen überprüft worden. Jede habe eine Stelle in dem Stück, wo es kippt, aber „es ist bei jeder Figur unterschiedlich.“ Es stelle sich die Frage: „Wo kann es kippen und so gelesen werden?“ Das Bühnenbild als Projektionsfläche sei eine weitere Metapher des „hinter Glas sehen“, woran sich die Frage anschließe: „Was ist wirklich die Realität?“ Neben dem Spiel mit den Stereotypen werde auch das Spiel nach der Frage „Was ist krank, was ist gesund?“ behandelt. Bei dem Stichwort „Kippen“ denken viele Besucher:innen nicht nur an die Kippfiguren, sondern auch an den Stuhl, auf dem Vasco Boenisch sitzt. Das eine Stuhlbein steht nur noch knapp auf der Bühne, der Rest schwebt über dem kleinen Abgrund. Wann wird er kippen? Doch es geht, anders als für die Figuren, alles gut aus.

Zum Schluss erklärt Thomas Melle, dass das Besondere am Stückeschreiben die Unmittelbarkeit sei. „Ich kann beweglich sein“ und oft habe er „den Drang etwas aufs Papier zu werfen“. Die Unmittelbarkeit schafft er nicht nur auf der Bühne, sondern auch beim Publikumsgespräch. Ein sehr direkter und persönlicher Abend für Publikum und Künstler:innen.