14. Mai 2017 •
Die Assoziation mit der virtuellen Welt kommt sofort. Wie animiert und ferngesteuert bewegen sich die Körper der vier Akteure über die üppig ausgestattete Bühne – Avatare in einem künstlichen Paradies. Die drei männlichen Figuren sind dabei ausschließlich anhand der Farben ihrer Ganzkörperkostüme zu unterscheiden, die in Rot, Gelb oder Grün leuchten. Göttergleich steigen sie im ersten Bild des Abends vom „Himmel“ – einer im Bühnenhintergrund befindlichen Treppe, die auf ein barock anmutendes Gemälde zuläuft – und betreten eine Welt, in der sie sich verhalten, als sei sie nur für sie allein geschaffen. Schon in diesem ersten, olympischen Auftritt tritt in Erscheinung, was Handlungen, Bewegungen und Sprache der einzelnen Figuren den ganzen Abend hindurch dominieren wird: ein unverbesserlicher Narzissmus.
„Die Vernichtung“ des Konzert Theaters Bern eröffnet in diesem Jahr das Festival „Stücke“ und polarisiert gleich am ersten Abend. Olga Bach (Text) und Ersan Mondtag (Regie, Kostüm- und Bühnenbild) verdeutlichen auf eindrucksvolle Weise, wie Inszenierung und Text als zwei autonome Ebenen auf der Bühne erscheinen können, die einander dennoch bedingen.
Zwei getrennte Ebenen?
Auf der Ebene der Inszenierung steht zunächst Mondtags phantasievolles und buntes Bühnenbild: ein scheinbarer Garten Eden. Der Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner spielt mit typischen Bildern aus der abendländischen Kulturgeschichte, die sofort Assoziationen hervorrufen. Erst auf den zweiten Blick fallen die ironischen Verfremdungen dieser Bilder ins Auge: Die antike Heldenstatue im Hintergrund hat zum Beispiel keinen Penis, sondern eine Vagina. Auf der gegenüberliegenden Bühnenseite bewundert sich eine Narzissfigur mit Prothese und Krückstock trotz aller Defizite im Spiegel. Und neben diesen traditionellen Darstellungen menschlicher Selbstverliebtheit hängt eine überdimensionale Schaukel von der Decke, auf der im Laufe des Abends intensiv getanzt und gefeiert wird.
Parallel zur überladenen visuellen Erlebniswelt öffnet Olga Bachs Text einen expressiven Sprachraum. Vier jugendliche Partygänger diskutieren abwechselnd über Drogenkonsum und ihre Weltansichten. Sie maßen sich an, alle Facetten der Welt ergründen zu können und sprechen davon, „urbanen Stress zu verursachen“ oder „eine Welle loszutreten“.
Schließt man kurz die Augen, was bei der starken Präsenz des Bühnenbildes kaum möglich ist, fühlt man sich beinahe in den Club einer deutschen Großstadt versetzt, wo nicht selten nach exzessivem Alkohol- und Drogenkonsum in irgendeiner Ecke Politikdebatten angezettelt werden. Dass genau dieses Palavern nichts, aber auch gar nichts verändert, ist eigentlich allen klar. Doch Narzissmus macht blind für die Wirklichkeit.
Symbiose von Text und Inszenierung?
Obwohl im Text vier Figuren auftauchen und sich tatsächlich auch vier Personen auf der Bühne befinden, fällt es schwer, die sprachlichen Äußerungen den einzelnen Akteuren auf der Bühne zuzuordnen. Das gesprochene Wort legt sich vielmehr wie eine Tonspur über die unnatürlichen Bewegungen der Schauspieler. Die hochtrabenden Diskursschleifen, die immer wieder in Belanglosigkeiten abdriften, lassen die Akteure nämlich unabhängig von ihren Schritten und Bewegungen verlauten. Diese hingegen wirken so, als seien sie ihnen im Vorfeld einprogrammiert worden: Wenn die Spieler in Avatar-Manier ihre Körper ausprobieren, übermütig werden und sogar von der Treppe stürzen, stehen sie nach einem kurzen Moment wieder auf und agieren unverändert weiter. Während einer exzessiven Tanzszene wirken sie beinahe unzerstörbar, gleichzeitig jedoch auch merkwürdig leer –als hätte ein Spieler sein Computerspiel kurz pausiert und die Figuren in einer Endlosschleife sich selbst überlassen.
Trotz der jeweiligen Autonomie treten Textebene und visuell-choreographisches Spektakel in eine clevere Symbiose, die nach und nach ihre Wirkung entfaltet: Denn dadurch, dass visuelles und auditives Geschehen nicht offensichtlich miteinander verbunden sind, wird deutlich, dass jede einzelne Figur in ihrer eigenen Blase gefangen ist und immer wieder daran scheitert, diese zu durchbrechen und wirklich mit den anderen Figuren in Kontakt zu treten.
Narzisstisches Dilemma
Schade ist, dass der Text gegen Ende des Abends immer weiter in den Hintergrund tritt. Zu lauter Technomusik und mit verzerrten Stimmen halten die Figuren eine moralische Standpauke, die in den Weiten der Mülheimer Stadthalle nicht bis in die letzte Reihe vordringt. Die Computerästhetik hat an diesem Punkt jedoch ihren Höhepunkt erreicht und vermittelt visuell, was vom Text verloren geht. So löst sich im Laufe der durchzechten Nacht nicht nur das ekstatische Diskursfeuerwerk der vier Partygänger in Luft auf. Auch die Avatare zerfallen mit Hilfe brillanter Lichtgestaltung (Rainer Casper und Rolf Lehmann) in Pixel und versammeln sich schließlich wie gescheiterte Heiligenfiguren, die erste Bildkonstellation des Abends referierend, am Fuße der Himmelstreppe. Diese ästhetische Ausarbeitung unterstreicht einmal mehr das Dilemma der Figuren: Was sie auch tun, sind sie doch in einer durch und durch narzisstischen und individualistischen Gesellschaft wie ferngesteuert und scheitern immer wieder an dem Versuch, diesen vorgegebenen Rahmen zu durchbrechen. Auch das letzte Bild, in dem Jonas Grundner-Culemann wie toll durch das Plastikparadies tobt, kann – jedem vermeintlichen Hoffnungsschimmer zum Trotz – an dieser Erkenntnis nichts ändern.