26. Mai 2017 •
Die Szene spielt …
zu Verona, Italien.
in einem gotischen Studierzimmer, nachts.
im argivischen Bergland vor einem einsam gelegenen Gehöft eines mykenischen Bauern.
in Alexandria, Ägypten.
in königlichen Palästen, auf weiten Feldern, in Kathedralen, auf Schiffen, in den großen Kapitalen Europas.
Die Szenen – bei Ferdinand Schmalz – spielen …
in einem Einkaufszentrum.
in einer Butterfabrik.
in einer Autobahntankstelle.
in einem Kurbad.
Der Mensch, ein Nichts-Vernichter
Wie gehen wir Menschen mit unbekanntem, neuem Raum um? Wir erkunden ihn und dann benennen wir ihn. Flüsse, Berge, ganze Länder, Sterne, Straßen, alles bekommt einen Namen. Das „Nichts“ (also der unbekannte/unbenannte Raum) wird „vernichtet“, indem wir ihm Sinn und Bedeutung zuweisen. So schaffen wir Orte, die uns dann als Grundlage bei der Orientierung und weiteren Sinnstiftung helfen. Sie bekommen einen festen Platz in unserer Wahrnehmung, eine Geschichte, wir verbinden eine Identität mit ihnen. Doch gerade in unserer Zeit, der industrialisierten, motorisierten, digitalisierten Moderne, haben wir Orte geschaffen bzw. schaffen wir weiterhin Orte, die anders sind als die herkömmlichen. Die keine eigenen Namen haben, vielmehr nach ihrer Funktion benannt werden. Die wir deshalb auch gar nicht als Orte, sondern nur um ihrer Funktion willen, wahrnehmen. Sie sind bloßes „Dazwischen“, wenn wir an/in ihnen verweilen, ist stets ein anderer Ort wichtiger als der derzeitige. Und um genau solche Orte drehen sich die Stücke von Ferdinand Schmalz:
Damit das Einkaufszentrum in „Herzerlfresser“ gebaut werden kann, wurde ein Sumpf zubetoniert. Da wo die Butterfabrik in „Am Beispiel der Butter“ steht, war früher eine Alm, auf der Kühe grasten. Die Autobahn aus „Dosenfleisch“ mitsamt ihren Raststätten hat sich durch die Landschaft gefräst, begrub sowohl Wohnhäuser als auch flussnahe Flora und Fauna unter einer grauen Decke mit weißen Streifen. Und schließlich ist da noch das Kurbad aus „der thermale widerstand“: Errichtet über einer heilsamen Quelle soll es jetzt von einem ausländischen Investor zu einer Freizeit-Oase für das gutbetuchte Publikum gemacht werden. Menschengemachtes übertüncht Natur.
Gewalttätige Nicht-Orte
Orte, die wie bei Schmalz nur einem einzigen Zweck dienen, monofunktional sind, nennt der französische Anthropologe Marc Augé „Nicht-Orte“. Sie haben keine Geschichte, keine Relation zu ihrer natürlichen oder menschlichen Umwelt, haben keine Identität. Damit kann man nicht nur Autobahnen, sondern Durchgangsorte aller Art, wie Flughäfen, Brücken, Flüchtlingsunterkünfte, aber auch Fabriken und shopping malls beschreiben. Moderne Städte sind voll von ihnen. Wir bewegen uns täglich zwischen ihnen hin und her. Uns erscheint die A40 als – abgesehen von Staumeldungen – wenig erwähnenswert, wir stehen genervt-wartend an Gleis 18, ohne den Bahnhof als Ort tatsächlich wahrzunehmen. Dennoch wohnt diesen Nicht-Orten eine gewisse Macht oder Eigenheit inne. Das macht sie als Schauplätze für Theater so interessant. Denn oft schwelt hier – gewissermaßen unterirdisch – ein Konflikt. Und Theater lebt vom Konflikt.
Der Sumpf unter dem Einkaufszentrum dringt durch die Ritzen, das sonnengelbe Buttergold will sich nicht länger einsperren und blockweise in keimfreie Folie verpacken lassen, das ewige Unterwegssein von Menschen und Dingen auf den Autobahnen ist genauso unnatürlich wie das ständige Sich-Selbst-Kurieren, um bloß schnell wieder problemunbelastet weiterfunktionieren zu können. Unter der Oberfläche der schönen, neuen Orte baut sich Druck auf, formiert sich Widerstand. Nicht-Orte funktionieren nur durch Regeln und Wächter, also Badeordnungen und Bademeister. Wer diese nicht einhält, wird aus der Masse der Nutzer des Nicht-Ortes ausgesondert und mit Badeverbot belegt.
Radikale kurz vor der Eskalation
Schmalz‘ Stücke besuchen ihre Schauplätze stets kurz vor der Eskalation: Der große unterliegende Konflikt zwischen ehemaligem, natürlichem Ort und menschengemachtem Nicht-Ort beeinflusst die Figuren. Ob nun bewusst oder nicht, sie begreifen, dass etwas falsch ist und wollen zu einem natürlicheren, „ortigeren“ Zustand zurückkehren. Die vorgebliche Raststättenbesitzerin Beate in „Dosenfleisch“ weiß, dass sie sich in einem bloßen Transitraum aufhält: „hier ist kein ort und keine zeit. hier rastet man im nirgendwo. […] das alles hier ist eine nische nur in raum und zeit, ein durchgang“. Die nicht-soziale Komponente dieses Raumes kommentiert der Fernfahrer so: „[…] kein halt in sicht. nur zwischenstopps. kein anhalten an einem anderen. kein festhalten, das leben ist halthaltbar nur in dauernder bewegung.“ „der thermale widerstand“ beschreibt auf sprachlicher Ebene eine Verbindung zwischen Natur und Bademeister Hannes: Das Quellwasser beginnt zu kochen, wenn Hannes wütend seinen Entschluss zum Widerstand fasst. Das Brodeln der Gefühle im Bademeister wird mit aufgewühlter See verglichen. Schmalz legt seinem Butterfabrikarbeiter Adi die Worte „Gewalt ist ein Naturprodukt“ in den Mund, man spreche wohl nicht umsonst von „Naturgewalt“. Anstatt sich an die Ordnungen zu halten, versuchen die Figuren aus Schmalz‘ Stücken aus dem Regelkorsett des jeweiligen Nicht-Ortes auszubrechen, radikalisieren sich, stecken weitere an, greifen gar zu Gewalt.
Am Ende der Stücke steht meist weder der Sieg des ursprünglichen Ortes über den Nicht-Ort noch dessen festbetonierte Überlegenheit. Schmalz‘ Stücke sind weder nostalgische Plädoyers für identitäts- und ordnungsstiftende Orte im herkömmlichen Sinn noch verstiegene Manifeste der Nicht-Orte. Aber sie zeigen, was für ein Potenzial diese Strukturen für das Theater haben. Ob so viel Konfliktpotenzial jemals in einem gotischen Studierzimmer hätte ausgeschöpft werden können? Es bleibt bloß zu warten, wann das erste Theaterstück auf einer Brücke, in einem Aufzug oder beim Köttbullar-Essen im Restaurant eines großen Möbelhauses spielt. Unsere Welt ist voller Nicht-Orte.