23. Mai 2017 •
[Postkarte 1: „Wir sitzen alle im selben Stück.“]
Der Platz auf einer Postkarte ist zu begrenzt, als dass ich mich mit Namen und Begrüßungsformeln aufhalten kann. Die Sache, um die es geht, ist von viel zu großer Bedeutung. Ich wähle dieses Medium, weil es so unverdächtig ist. Die LOGE würde niemals auf die Idee kommen, dass so sensible Informationen über Werbepostkarten ihres eigenen Theaterfestivals übermittelt werden könnten. Ich adressiere diese Karten an die Blogredaktion der Stücke, weil ich ernsthaft hoffe, dass dort junge Menschen mit Idealen sitzen. Ist meine Hoffnung vergebens? Werden sie die Unglaublichkeiten, die ich zu berichten habe, veröffentlichen? Doch von Anfang an:
Ich bin ausgelernte Servicekraft im Gastronomiebetrieb, leider seit zwei Jahren arbeitssuchend. Deshalb freute ich mich, als eine Bekannte mir mitteilte, dass die Gastronomie der „Stücke 2017“ 42. Mülheimer Theatertage NRW aufgrund von krankheitsbedingten Ausfällen dringend eine Aushilfe suchte. Meine Bewerbung war erfolgreich und so stand ich am Abend der Eröffnung hinter dem Tresen der Stadthalle. Die Oberkellnerin hatte mich sehr sorgfältig eingewiesen, anscheinend missfielen ihr kurzfristige Veränderungen. Meine Aufgaben bestanden im Aufnehmen von Bestellungen und Ausschenken von Getränken, sie selbst machte den Verkauf des Salzgebäcks, während die Küche für aufwendigere Speisen zuständig war.
Schon kurz nach Beginn der Pause wurde es recht hektisch, die Küche kam irgendwie nicht ganz hinterher und die Oberkellnerin ging nach hinten, um nachzuschauen. So blieb ich allein hinter dem Tresen. Die Schlange der Gäste war lang. Eine ältere Dame bestellte zwei Sekt und eine Laugenbrezel. Ich schenkte ein und sah mich nach meiner Chefin um, doch sie war noch nicht zurück. Um die Kundin nicht länger warten zu lassen, ging ich hinüber zum Ständer mit den Brezeln, der wohl aus Platzgründen leicht versteckt hinter dem Tresen stand. Ich rechnete ab und wollte mich gerade dem nächsten Kunden widmen, als die Oberkellnerin wie aus dem Nichts neben mir auftauchte. „Haben Sie gerade eine Brezel verkauft?“ „Ja, die Kundin dort vorne bestellte eine.“ In ihrem Blick wechselte Verwunderung zu blanker Wut. „Was fällt Ihnen ein!“, zischte sie. „Ich verkaufe die Brezeln, Ihre Aufgaben beschränken sich auf die Getränke!“ „Aber es war doch nur-“ „Sie befolgen meine Anweisungen, sonst sind Sie den Job los. Verstanden?“ Ich bejahte verwirrt. Mich feuern wegen einer Brezel?! Was sollte das denn? Schnell widmete ich mich wieder den wartenden Kunden.
[Postkarte 2: „Die Aufwärmübungen vor dem ersten Sprung sind unverzichtbar.“]
Am Mittwoch, den 17. Mai, wurde ich zufällig Zeuge, wie die Brezeln angeliefert wurden. Alle anderen Lebensmittel und Getränke waren bereits früh am Morgen gekommen, damit sich die Küche vorbereiten konnte. Nur die Brezeln ließen auf sich warten. Die Oberkellnerin war ziemlich nervös deswegen. Die Vorstellung von „Vereinte Nationen“ hatte gerade begonnen, als ich mir eine Zigarette im Hof gönnte. Da fuhr ein schwarzer Lieferwagen bis kurz vor den Lieferanteneingang. Die Oberkellnerin eilte aus der Tür, ohne mich zu bemerken. Die Schiebetür des Wagens öffnete sich, ohne dass vorher jemand ausgestiegen war. Ich konnte nicht hören, was gesagt wurde. Es war jedoch ein sehr knapper Dialog, dann nahm die Oberkellnerin eine Transportkiste in Empfang und ging zurück ins Gebäude. Der Lieferwagen startete den Motor und brauste davon. Was für eine Szene!
Noch seltsamer wurde es dann in der Pause: Während ich bei den Getränken stand bemerkte ich, wie ein grauhaariger Mann direkt zur Seite der Oberkellnerin ging. Doch anstatt etwas zu sagen wie: „Eine Brezel, bitte.“, sprach er zwei Worte, die ich noch nie gehört hatte, und die Oberkellnerin antwortete ebenso in dieser fremden Sprache. Er bekam seine Brezel ohne dafür bezahlen zu müssen. Kurz danach kam die ältere Dame wieder, der ich am Sonntag schon die Brezel verkauft hatte. Sie bestellte bei der Oberkellnerin, doch die meinte: „Tut uns leid, aber Brezeln sind aus.“ Dabei stand noch der halbvolle Brezelständer hinter dem Tresen! Danach kam wieder jemand, der diese komischen Worte sagte und ohne Umschweife eine Brezel bekam. Ich ließ meinen Blick durch den Saal schweifen, ganz hinten, in einer Ecke, die nur gedimmt beleuchtet war, standen mehrere Personen. Sie waren alle unterschiedlichen Alters und hatten verschiedene Kleidungsstile, soweit ich das erkennen konnte, aber alle hielten eine Brezel in der Hand. Diesmal erschien eine junge Frau am Tresen, die anscheinend dem Sekt schon etwas zugesprochen hatte. Während die anderen Kunden fast geflüstert hatten, konnte ich die Worte verstehen, die sie sagte. „Saleziosa amat.“ Die Entgegnung meiner Chefin, war zu leise. Was konnte das nur bedeuten?
[Postkarte 3: „Sehen wir nicht überdurchschnittlich gut aus?“]
Tags darauf sprach mich die Oberkellnerin an. Sie wolle sich entschuldigen für ihr Verhalten am ersten Abend. Der Stress, die kurzfristigen Veränderungen und die Probleme in der Küche. Sie sei ungerecht und unprofessionell mir gegenüber gewesen. Ich akzeptierte ihre Entschuldigung, woraufhin sich das Klima zwischen uns deutlich aufhellte. Sie bot mir sogar das Du an. Das ließ mich mutig werden und ich fragte, warum die ältere Dame keine Brezel bekommen hatte. Was sei so besonders an Laugengebäck? Augenblicklich wurde ihr Blick eiskalt. „Da gibt es keine besondere Bedeutung. Das sind einfach nur Brezeln.“
[Postkarte 4: „Niemand zwingt dich zu irgendwas.“]
Am Freitag, den 19.05., fand nichts in der Stadthalle statt, ich hatte also Freizeit. Die Brezelgeschichte ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte sehr schlecht geschlafen, wirres Zeug geträumt. Die anderen Servicekräfte und die Köche hatten ausweichend reagiert oder sich über meine Frage lustig gemacht. Fast hätte ich mich selbst davon überzeugt, dass das mit den Brezeln Blödsinn war. Doch dann habe ich recherchiert:
Jedes Theater im deutschsprachigen Raum bietet Brezeln an. Sogar auf den Internetseiten der Theater oder ihrer Gastronomien steht an erster Stelle immer Laugengebäck. Und man hört ja häufig, dass Theater sich mittlerweile gezwungen sehen, in ihre Inszenierungen Pausen einzubauen, selbst wenn es nicht nötig ist oder gar nicht passt. Die Pause müsse sein – wird man dann aufgeklärt – weil die Besucher die Theatergastronomie beanspruchen sollen. Denn über die bzw. deren Miete wird dann wieder das Theater mitfinanziert. Knallhartes Wirtschaftskalkül also! Aber wenn man dann einen Stützungskauf machen möchte, hört man sofort: „Tut uns leid, Brezeln sind aus.“ Bisher dachte ich immer, die machten das absichtlich, damit man zu teureren Sachen greift. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
[Postkarte 5: „holla, wer bist du denn, schöne europa. it’s a match.“]
Ich habe auch den Zulieferer für das Laugengebäck gegoogelt. Normalerweise ist sowas ja überhaupt keine Schwierigkeit, Internet sei Dank. Doch weder auf den Websites der Mülheimer Theatertage noch bei den Gastronomien der Stadthalle konnte ich dazu etwas finden. Hatte etwas auf der Schiebetür des Lieferwagens gestanden? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. So kam ich nicht weiter. Ich wollte schon aufgeben, da kam mir dieser seltsame Spruch in einer mir unbekannten Sprache wieder in den Sinn: „Saleziosa amat.“ Ich tippte das in die Suchmaske. Ein einziges Ergebnis. Eine Firmenadresse, in einem Ort, von dem ich noch nie gehört hatte. Von jetzt auf gleich fasste ich einen Entschluss, setzte mich ins Auto und ließ mich von meinem Navi zu der Adresse führen. Es ging hinaus aus der Stadt, über Landstraßen und Feldwege. Ich kenne mich im ländlichen NRW nicht aus, bin ein Stadtkind durch und durch. Also vertraute ich meinem Navi blind. Schließlich gelangte ich auf einen Feldweg, der sich an einem Wald entlangschlängelte. „Noch 1,5 Kilometer.“ Ich folgte der Anweisung, gleich sollte es eine Abzweigung nach links geben. Doch da kam keine. Ich fuhr noch ein Stück weiter. „Nach Möglichkeit bitte wenden.“ Hatte ich etwas übersehen? Ich setzte zurück und kam zu der Stelle, an der es laut Navi eine Abzweigung geben müsste. Doch es war keine Öffnung im Unterholz zu sehen. Ich hielt an, stieg aus. „Noch 800 Meter.“ Das war auch zu Fuß zu schaffen. Ich zwängte mich zwischen den tiefhängenden Ästen hindurch in den Wald hinein. Zwischen den Bäumen wuchs Moos, meine Schritte federten ungewohnt. Die Blätter schluckten Geräusche, bis auf meinen stoßweisen Atem war es fast still. Das Ganze kam mir immer unwirklicher vor. Was tat ich hier eigentlich? Stapfte durch einen Wald, um den Hersteller von Laugengebäck zu finden? Warum nur? „Noch 100 Meter.“ Ich lief weiter. Plötzlich stand ich auf einer Lichtung mitten im Wald, Sonnenstrahlen blendeten mich. Ich blinzelte, hielt mir eine Hand über die Augen. „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Mitten auf der Lichtung stand ein Betonklotz. Zögernd lief ich auf ihn zu, umrundete ihn. Das konnte doch keine Fabrik sein, geschweige denn eine Großbäckerei für Laugenbrezeln! Der Block war fast quadratisch, die Seitenwände ungefähr acht Meter lang und bestimmt fünf Meter hoch. Aber keine Tür, kein Fenster, gar nichts. Einfach grauer, leicht verwitterter Beton. Dann bog ich um die letzte Ecke und stand vor der vierten Wand. Von dieser Wand war fast nichts zu sehen. Auf ihrer kompletten Fläche waren Briefkästen angebracht. Ich trat näher heran. Da der dritte von links, zweite Reihe von unten: „Saleziosa-Gebäck AG“, das musste der Lieferant für die Mülheimer Theatertage sein! Daneben: „Salis salis. Brezeln“, „Brunner-Salzgebäck-GmbH“, „Deutsche Laugenwaren AG“, „Austria Salzbrezen“, „Bretzel-Bern & Co. KG“. Die gesamte Wand war voller Briefkastenfirmen für Laugenbrezelhersteller! Hier, mitten im Wald!
Plötzlich knackte ein Ast hinter mir, Vögel flogen laut protestierend auf. Ich fuhr herum, doch da war niemand. Ich sah mich nach allen Seiten um, versuchte im Halbschatten des Waldes etwas auszumachen, doch vergeblich. Ich drehte mich wieder zu der Wand um, ich fühlte mich unbehaglich. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Wenn man davon ausging, dass die Saleziosa-Gebäck AG Lieferantin für die „Stücke“ war und alle anderen Briefkästen ebenfalls zu Herstellern von Laugengebäck gehörten, mit denen Theater beliefert wurden, dann waren hier mit Sicherheit alle Theater Deutschlands, Österreich und der Schweiz abgedeckt. Vielleicht sogar mehr. Was sollte das? Warum Scheinfirmen für Salzbrezeln? Wo wurden die denn dann eigentlich produziert? Und von wem? Ich verfluchte mich, dass ich nichts zum Schreiben dabeihatte. Vielleicht konnte ich mir ein paar der Namen einprägen. Die Sonne stand mittlerweile tief, ich musste zurück zum Auto bevor es dunkel wurde. Während des Rückwegs ertappte ich mich dabei, wie ich mich häufiger umschaute, im Auto sah ich öfter als üblich in den Rückspiegel.
[Postkarte 6: „aber ich will sie mir jetzt näher ansehen und herausfinden wer recht hat die Gesellschaft oder ich“]
Am Samstag, den 20. Mai, kam ich pünktlich zur Arbeit, am Abend sollte „Mädchen in Not“ von Anne Lepper aufgeführt werden. Ich stellte gerade saubere Gläser bereit, als mir jemand auf die Schulter tippte. Die Oberkellnerin und ein mir unbekannter Mann standen vor mir. „Ist das hier Ihre Tasche?“, fragte sie mich. „Ja, stand sie im Weg?“ „Machen Sie keine Witze, Sie haben gestohlen.“ Sie holte ein Bündel Geldscheine aus meiner Tasche. Ich war sprachlos. „Sie sind fristlos gefeuert. Für Ersatz ist bereits gesorgt.“ Das war alles ein schlechter Traum.
Ziellos schlenderte ich durch die Stadt. Ich wusste nicht wohin, nach Hause wollte ich nicht. Hatte um diese Zeit schon eine Kneipe offen? Ich setzte mich auf eine Parkbank. Da sah ich ihn plötzlich: den unbekannten Mann. Er war mir kaum wirklich aufgefallen, hatte im Hintergrund gestanden, aber doch nah genug, um irgendwie wichtig genug zu sein. Er trug einen blauen Anzug und eine randlose Brille. Er hatte mich nicht gesehen, eilig schritt er durch den Park. „Wohin bist du unterwegs?“, dachte ich. „Feuerst du den nächsten Kellner, der nach Brezeln fragt?“ Etwas in mir machte Klick. Ich stand auf, folgte dem Mann. Es ging über die Ruhr, mehrere Straßenzüge ließen wir hinter uns, bis er vor einem herrschaftlichen Gebäude aus den Fünfzigern einbog. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Erst als ich direkt vor dem Eingang stand, erkannte ich es als das teuerste Hotel Mülheims. Der Parkplatz stand voller Limousinen, auffällig viele Berliner Kennzeichen, ein Bonner Beamtenwagen war dabei und weitere aus größeren Städten Deutschlands und Österreichs. Was fand denn hier statt?
Der Mann im blauen Anzug war verschwunden, ich betrat auf gut Glück die Lobby. Sie war groß, gedämpftes Licht beschien Wirtschaftswunderschick. Hinter einem gewaltigen Holztresen lächelte mich der Concierge an. Ich trug noch immer den Anzug, den ich als Kellner in der Stadthalle getragen hatte. Er musterte mich eingehend, doch anscheinend konnte er nichts Anstößiges an meiner Erscheinung finden. Links von mir, am Ende eines langen Ganges nahm ich eine Bewegung wahr, ein blauer Anzug verschwand um die Ecke. Der Concierge lächelte weiter, wartend. „Saleziosa amat.“, sagte ich. Sein Lächeln wurde breiter, „Liburnicam Cicero.“, lautete seine Antwort. Er drückte mir eine Laugenbrezel samt Serviette in die Hand. Ein Hotelmitarbeiter erschien und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir gingen den langen Gang entlang. Was passierte hier gerade?! Saleziosa amat. Liburnicam Cicero. Was konnte das nur bedeuten? Welche Sprache war das? Latein vielleicht? Cicero, der Name kam mir bekannt vor. Aber was war mit dem Rest? Und wie schrieb man das? Eine Tür wurde geöffnet und ich betrat einen Saal. Hier standen ungefähr 100 bis 150 Leute. Und alle mit einer Laugenbrezel in der Hand.
[Postkarte 7: „Und dann? Dann beginnt die Tragödie.“]
Vorne im Saal, auf einem Podium stand ein Mann an einem Rednerpult. Groß, hager, sein grauer Vollbart schimmerte im Scheinwerferlicht fast silbern. Ein Platz am Tisch hinter ihm war frei, ein Namensschild wies diesen Platz als den eines Herrn Wessel aus. Das musste der Redner sein. Er schien große Autorität zu haben, alle Blicke waren wie gebannt auf ihn gerichtet. Unbemerkt konnte ich mich durch die Menge weiter nach vorn arbeiten. Viele gut gekleidete Menschen um mich herum. Keine Spur vom Mann im blauen Anzug. „Saleziosa amat.“, sagte der Redner. „Liburnicam Cicero.“, antworteten ihm alle im Chor. Was war das denn für ein Verein? „Willkommen, liebe Freundinnen und Freunde! Die Gesellschaft der Freunde des Salzgebäcks ist wieder einmal zu ihrem jährlichen Treffen während der „Stücke“ hier im schönen Mülheim zusammengekommen. Doch unterscheidet sich der heutige Tag von denen der vorangegangenen Jahre. Heute besteht Grund zur Freude! Es ist uns gelungen, Herrn Dr. Detlef Meise für unser Anliegen zu gewinnen. Herr Dr. Meise hat sich über Jahre hinweg im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit in der Abteilung Wasserwirtschaft verdient gemacht. Sein – von der Öffentlichkeit viel zu wenig geachtetes – Bemühen um die Trinkwasserversorgung der Bürgerinnen und Bürger, hat ihn zu einem natürlichen Partner für unser hehres Projekt gemacht. Es war nicht einfach, an einen so hart arbeitenden Mann heranzukommen, doch gute Argumente haben ja kein Verfallsdatum. Endlich also, darf ich sagen: Herzlich willkommen, Herr Dr. Meise, hier in unserem bescheidenen Kreise. Es geht um das teuerste Gut der Menschheit!“ Applaus. Ein kleiner, rundlicher Mann mit kurzen ergrauenden Haaren trat ans Mikrofon. Unbeholfen räusperte er sich zu laut ins Mikrofon, zuckte zusammen, murmelte eine Entschuldigung. Er rückte seine Nickelbrille zurecht. „Guten Abend, meine Damen und Herren. Zunächst möchte ich Herrn Wessel für die einleitenden Worte und die freundliche Einladung zu ihrer Versammlung danken. Als einer meiner Mitarbeiter vor einigen Monaten auf mich zutrat und mir von Ihrer Vereinigung erzählte, wusste ich – um ganz ehrlich zu sein – erst einmal gar nicht, was ich damit anfangen sollte.“ Ein leicht schiefes Lächeln, wohlwollendes Schmunzeln um mich herum. „Doch Herr Wessel konnte mich schließlich von Ihren Zielen überzeugen, sodass ich mich sehr freue, heute Abend vor Ihnen sprechen zu dürfen. Erst vorletzte Woche sind meiner Abteilung für Wasserwirtschaft wichtige Gelder aus öffentlicher Hand gekürzt worden. In Nordrhein-Westfalen können mittlerweile fast 130 Kommunen die Wasserversorgung finanziell kaum noch bis gar nicht mehr leisten, 25 weitere drohen in diesen Bereich abzurutschen. Natürlich wissen wir alle, dass das gesamte Umweltministerium seit Jahren unter Finanzierungsproblemen leidet. Doch sollte man meinen, dass der gesicherte Zugang zu sauberem Trinkwasser im besonderen Interesse des Gesetzgebers liegen müsste. Die Gemeinden werden vielerorts quasi allein gelassen.“ Ich spürte ein kaltes Stechen im Nacken. Mich umdrehend sah ich in das Gesicht des Mannes im blauen Anzug. Mein Puls stieg sprunghaft nach oben, mir wurde schwindlig. Auf der Bühne fuhr der Meise fort: „Umso mehr muss ich mich bei Ihnen für Ihr großzügiges Angebot bedanken. Mit Ihrer Hilfe garantieren wir den Bürgerinnen und Bürgern-.“ Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch vergebens. Absolute Schwärze brach über mich herein wie eine gewaltige Welle, ich sackte zusammen.
[Postkarte 8: Der Wahnsinn zeigt den Menschen ihre Grenzen, damit sie drübersteigen können, erst dann beginnt der Spaß.“]
Ameisen. Hunderte. Tausende Ameisen. Unter meiner Haut. Mit brennenden Armen und Beinen wachte ich auf. Ich schlug die Augen auf und blinzelte in die nackte Glühbirne an der Decke des kleinen Raumes. Man hatte mich an Händen und Füßen sehr fest an einen Stuhl gefesselt. Zwei Gestalten standen vor mir. Eine trat ins Licht. Sein langer Bart war flüssiges Silber. Herr Wessel beugte sich vor, bis seine graugrünen Augen direkt in meine starrten. „Soso. Ein Eindringling. Ein Störenfried.“ „Er war im Wald. Hat Fragen gestellt. Wir haben in seiner Wohnung Aufzeichnungen gefunden.“, der Mann im blauen Anzug machte ebenfalls einen Schritt nach vorn. „Soso.“ Herr Wessel richtete sich wieder auf. „Sowas können wir natürlich nicht dulden. Gerade nicht jetzt.“ „Nein, Herr Wessel.“ „Gerade nicht hier.“ Da verstand ich: Die Mülheimer Theatertage waren IHR Festival. Wer auch immer sich hinter dieser geheimnisvollen Gesellschaft verbarg, was auch immer sie in Wirklichkeit tat. Es ging hier nicht um Laugenbrezeln. Deshalb die ganzen Briefkästen mitten im Wald. Alle Theater des deutschsprachigen Raums waren von ihnen infiltriert, die „Stücke“ als das Theaterfestival für den deutschen Sprachraum bot ihnen ganz unverdächtig Gelegenheit zu einem Geheimtreffen. Der bärtige Mann wandte sich zum Gehen. „Wissen Sie, für die Herstellung von Laugengebäck wird seit jeher schwach konzentrierte Natronlauge verwendet. Damit die Brezeln diese schön braune Farbe und ihren typischen Geschmack bekommen.“ Mit dem Rücken zu mir stand er einen Schritt von der Tür entfernt. „In den Kindertagen der industriellen Laugengebäckproduktion ist es häufiger zu Unfällen gekommen. Es wird von einem Unfall berichtet, bei dem ein Mitarbeiter die Lauge aus Versehen zu hoch konzentriert hat. Aufgrund der veränderten Zusammensetzung der Flüssigkeit ist der Behälter überhitzt und explodiert.“ Herr Wessel drehte den Kopf leicht zur Seite, sodass ich sein Gesicht im Profil sehen konnte. „Hoch konzentriert können schon geringe Mengen Natronlauge zu schweren Verätzungen und sogar zum Erblinden führen.“ Er öffnete die Tür und verließ den Raum. Stille. Erst jetzt konnte ich es hören. Ein leises aber beständiges Brodeln und Blubbern, wie ein zu heiß eingestellter Samowar.
Der Schmerz kam mit solcher Wucht über mich, dass ich nicht einmal schreien konnte. An allen unbedeckten Stellen meines Körpers bissen mich glühende Zähne, rissen mir das Fleisch von den Knochen. Ich muss für ein paar Minuten ohnmächtig geworden sein. Als ich erwachte war der Raum leer, die Tür stand offen. Aber irgendetwas stimmte nicht, alles wirkte wie eine Zeichnung, verschwommen, schief, ohne Tiefe. Alles an mir tat höllisch weh, doch ich merkte, dass ich meine Arme bewegen konnte. Nichts hielt mich mehr aufrecht am Stuhl und ich fiel Kopf voran auf den nassen Boden. Der Schmerz explodierte erneut. Irgendein Reflex in mir reagierte noch und ich rollte mich vorwärts, weg aus der Natronlache. Die Tür kam näher, ich robbte darauf zu. Ich dachte nicht daran, wo der Mann im blauen Anzug sein könnte, was hinter dieser Tür sein könnte, ich bewegte mich wie ferngesteuert.
Wie ich es die Treppe hinaufgeschafft habe, weiß ich nicht mehr. Dann kamen ein Gang und eine Schwingtür und ich lag in einem hell erleuchteten Raum. Viel Weiß war um mich herum. Auf allen Vieren taumelte ich in eine Richtung und brach durch das Weiß. Es dauerte lange, bevor ich verstand, wo ich war. Genauso lange wie ich brauchte zu verstehen, dass mich die Lauge fast blind gemacht hatte, nur auf einem Auge konnte ich noch eingeschränkt sehen. Ich bewegte den schmerzenden Kopf und erkannte schließlich das Foyer der Stadthalle.
Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Hatte man mein Entkommen bemerkt? Hektisch versuchte ich, vorwärts zu kommen. Jede Bewegung erzeugte Höllenqualen. Da stieß ich an etwas und ein kleiner Kasten fiel herunter. Postkarten regneten auf mich herab, ein Stift kullerte bis kurz vor meine verkrampfte Hand. Das war ein Zeichen! Ich würde es niemals lebend hier herausschaffen, aber ich musste andere warnen! Ich musste die Menschen in Mülheim warnen! Vor der LAUGENLOGE! Vor den Brezelknabberern in den Theatern! Saleziosa amat. Liburnicam Cicero. Aber die „Cs“ in „Cicero“ sprechen wir im Deutschen wie „Z“ aus. Saleziosa Amat. Liburnicam Zizero. S.A.L.Z. Will diese Gesellschaft Einfluss auf die Trinkwasserversorgung nehmen? Ich-
[Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wird die Schrift endgültig unlesbar. Kurz darauf brechen die Aufzeichnungen ab. Die Redaktion des „Stücke“-Blogs veröffentlicht den Inhalt der Postkarten ohne Auslassungen oder Verfälschungen. Allerdings weist sie ausdrücklich darauf hin, dass es sich hier um eine Fiktion handeln muss. Der Autor konnte nie ermittelt werden und auch die Existenz einer „Gesellschaft der Freunde des Salzgebäcks“, die sich alljährlich während der „Stücke“ in Mülheim träfen, kann nicht belegt werden.]