8. Mai 2016 •
Auf das Eröffnungsstück eines Theaterfestivals, das sich durchaus einer enormen Resonanz erfreut und dieses Jahr immerhin schon zum 41. Mal stattfindet, ist man verständlicherweise gespannt. Wenn dieses Stück in sprachlicher und dramaturgischer Hinsicht schon im Vorfeld für großen Wirbel gesorgt hat, umso mehr. „The Situation“, das die israelische Autorin Yael Ronen wie schon im Falle ihrer Arbeit „Common Ground“ gemeinsam mit zwei Ensemblemitgliedern des Berliner Maxim Gorki Theaters und vier Gästen desselbigen erarbeitet hat, verheißt neuartige Perspektiven auf die Flüchtlingskrise – und damit wohl auf das gesellschaftlich-theatrale Phänomen unserer Tage.
Fünf junge Menschen aus dem Nahen Osten bzw. Syrien konfrontieren ihren Deutschkurs-Lehrer in Berlin-Neukölln mit ihrer komplexen wie berührenden Geschichte, halten ihm damit selbst den Identitätsspiegel vor und finden sich schließlich zusammen, um polemische Vorwürfe wie helle Zukunftsträume auszutauschen.
Plastikkaktus und saftige Beats
Ein buntes Bühnenbild samt gelber Treppe und aufgeblasenem Plastikkaktus, saftige Beats und rasante Akrobatikeinlagen sind charakteristisch für die jungen, energiegeladenen Gorki-Akteure. Ebenso die virtuose Spielfreude; obgleich eingeräumt werden muss, dass die Texte des Stücks eher als Monologe oder Reflexionen daherkommen, die nicht sonderlich viel „Spiel“ im agogischen oder gestischen Sinne ermöglichen. Probleme der zweifellos neuartigen, spannenden Mehrsprachigkeit – es werden stellenweise nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch Arabisch, Hebräisch und Syrisch gesprochen – sind fernerhin die kontinuierliche Übertitelung und temporeich überhitzte Szenen, in denen zumindest für Leute, die mit der Lesefassung nicht vertraut sind, Pointen und Fakten verloren gehen müssen. Hier könnte man, wie in der Begründung des Auswahlgremiums auch geschehen, einwenden, dass kaum etwas unsere Gesellschaft so angemessen widerspiegelt wie dieses kulturell-sprachliche Wirrwarr; ein roter Faden ist dennoch vonnöten.
Dimitrij Schaad mimt den ehrgeizigen, homosexuellen Deutschlehrer, der sich nach Lesson 5 selbst als kasachischer Einwanderer enttarnt, ebenso glaubwürdig und schrullig, wie Maryam Abu Khaled eine rotzfrech-lebensnahe schwarze Palästinenserin und Yousef Sweid einen identitätsgebeutelten, sexbedürftigen Palästinenser arabischer Herkunft. Kein Wunder: Alle Schicksale sind nicht etwa bloß brillant erdacht, sondern tatsächlich erlebt, will sagen: durchlitten. Diese größtmögliche Authentizität schafft trotz vereinzelter Textpassagen im Stile von „ZDF-History“ unfasslich berührende Gefühlsmomente. Aus demselben Grund gewann „Common Ground“ letztes Jahr den Mülheimer Publikumspreis. Die „political incorrectness“, von der Yael Ronens Stück nur so strotzt, tut ihr unterhaltsames Übriges. „Korruption ist das russische Äquivalent zur Bearbeitungsgebühr“, heißt es etwa. Und auch die Zurechtweisung, dass deutsche Rapsongs eher von Anal-Sex und Nutten als von Morddrohungen gegen Zionisten geprägt sein sollten, hat erfrischend schwarzhumoristischen Beigeschmack.
„Culture Clash“ auf der Bühne
Man lernt viel Historisches und Geographisches an diesem Abend – zum Beispiel wer wen wo in Syrien bekämpft oder warum Gorbatschow nicht überall ein Held ist – und man gewinnt durch individuelle Schicksale einen notwendig andersartigen Blick auf die sogenannte Flüchtlingskrise. Yael Ronens Arbeitsweise ist momentan zweifellos einzigartig in der deutschsprachigen Theaterszene. Rigorose Textmontage betreiben im zeitgenössischen Theater viele, vergleichbaren „Culture Clash“ wohl aber niemand. Trotz beinah stagnierender Spielsituationen wird ein wertvoller emotionaler Funke aufs Publikum übertragen. Zwar gibt es im Gegensatz zu „Common Ground“ nur vereinzelt stehende Ovationen, der Beifall ist dennoch groß. Dies ist wohl vor allem dem fulminanten Schluss des Stücks geschuldet: Trotz erfahrungsbasiertem Pessimismus wagen alle Beteiligten einen träumerischen Blick auf ihr gegenwärtiges Dasein in Deutschland und konfrontieren uns mit einer zarten Utopie.