22. Mai 2016 •
Was will uns der:die Autor:in damit sagen? Die allseits unbeliebte Frage aus dem Deutschunterricht der Mittelstufe findet im Kontext zeitgenössischer Dramatik zu neuer Virulenz. Denn was passiert, wenn sich zusätzlich zur hochsubjektiven Leseerfahrung auch noch die Rezeptionsebenen des Inszenierens und Inszenierung-Betrachtens dazugesellen? Wird aus drei verschiedenen Wahrnehmungsetappen am Ende alles ein Wahrnehmungs-Einheitsbrei? Und was bleibt dann vom „eigentlichen“ Text?
Eingebrannte Positionen?
Stück ungleich Inszenierung ungleich Aufführung. Erstes Semester Theaterwissenschaft, oder auch eine außerhalb irgendwelcher Bildungsinstitutionen geläufige Feststellung. So banal – und doch so leicht vergessen. Gerade in Anbetracht des nicht selten emotionalisierenden Live-Ereignisses Theater geraten über dem Gesamterlebnis die Bearbeitungsebenen schon mal aus dem Blick. Das lässt einen bunten Strauß an Überzeugten erblühen: Da gibt es die knallharten Verfechter:innen des Textes, die die Bühne als Dienerin seiner „getreuen Umsetzung“ funktionalisieren. Die Berieselungsliebhaber:innen, die sich etwas erzählen lassen wollen. Die intellektuellen Masochist:innen, für die Theater anstrengend sein muss und sich auf gar keinen Fall selber erklären darf. Und die, die im Text nur noch ein Relikt des lange überkommenen Bühnennarrativs sehen und am liebsten gänzlich darauf verzichteten. (Und natürlich alle möglichen Varianten dazwischen, die sich nicht in so wohlklingende Stereotype quetschen lassen.)
Wer hat’s gelesen?
Wie sich nicht zuletzt aus den Publikumsgesprächen der „Stücke“ heraushören lässt, haben die Zuschauenden ganz unterschiedliche Ansätze, mit der Lücke zwischen Text und Inszenierung umzugehen. Gerade Stammbesucher:innen haben sich oft im Vorhinein der Lektüre gewidmet und jetzt das Bedürfnis, die Unterschiede zwischen Text und „Umsetzung“ zu diskutieren. Wer nicht gelesen hat, fällt da manchmal beinahe unangenehm durch das Stellen sachlicher Nachfragen auf. Ob es hier ein Richtig oder ein Falsch gibt, ist seinerseits diskutabel. „Sie brauchen nicht unbedingt zu lesen. Sie gehen ins Theater – das ist gut!“, findet zum Beispiel die diesjährige „Stücke“-Autorin Felicia Zeller.
Die Problematik ist in der Konzeption angelegt: Die „Stücke“ sind ein Festival, das Theatertexte prämiert, aber Inszenierungen einlädt. Zumindest in die Abstimmung zum Publikumspreis spielt zwangsläufig eine Bewertung der Theaterabende an sich hinein. Die Jury hat natürlich alle Stücke intensiv gelesen und ist bemüht, die Texte zu bewerten – doch auch sie kann den Empfindungen während des jeweiligen Aufführungsbesuchs wohl kaum gänzlich entsagen. Wie rechtfertigt sich die Vergabe des Mülheimer Dramatikerpreises und – muss sie sich bis ins Letzte rechtfertigen?
Scharfe Grenzen im Schlängeltanz
Zwei ganz große Kapitel im Atlas der Theaterbetrachtung sind damit aufgeschlagen, die bei aller Gegensätzlichkeit immer parallel im Auge behalten werden müssten.
Erstens: Die Differenz zwischen Stück und Inszenierung sollte immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Sie eins zu eins gegenüberzustellen oder sogar gleichzusetzen, wird der Unterschiedlichkeit ihrer Medien einfach nicht gerecht – man gedenke der berüchtigten Äpfel und Birnen. Es ist außerdem unendlich beengend, Theater immer nur vom Text her zu denken – selbst wenn Geschriebenes seinen Weg auf die Bühne findet, ist es dort nur eines von vielen ineinander verschränkten theatralen Mitteln und nichts, von dem sich eine Inszenierung sklavisch abhängig machen müsste.
Zweitens (und dies steht im beständigen Spannungsverhältnis zu „Erstens“): Stücke sind natürlich Texte für eine Bühne und damit nur teilweise ohne sie zu denken. Sie zu lesen, ist eine sekundäre Rezeptionsweise – von der Idee her sollen sie inszeniert wahrgenommen werden. Klare Trennungen sind obsolet; der wirklich interessante Moment ergibt sich aus dem Zusammentreffen von Literatur und Bühne, dem Clash ihrer unterschiedlichen Mittel und dem Spiel mit ihren Formen. Das kann lustvoll sein und Neues hervorbringen, natürlich auch Erwartungen brechen und provozieren, ge- oder auch misslingen – das Theater ist ein Medium, in dem viele andere Medien zwischen Reigen und Pogo zu einem gemeinsamen Tanz finden. Und zwar – das ist das Einzigartige – live.
Toleranz und Institutionskritik
Es gibt wohl keine Patentlösung für Text auf Bühnen. Auf ihn zu verzichten, wie es viele Theaterformen tun, ist ein legitimes Mittel, das spannende Momente hervorbringt, gerade indem es sich bewusst einer jahrhundertelang den Ton der Inszenierung angebenden Autorität entledigt. Zugleich wäre es in Anbetracht der großen Sprachkunst heutiger Autor:innen schade, wenn alles Theater sich vom Text abwendete: Wenn Kunst sich von irgendeiner Seite einengen lässt, ist immer irgendwas verkehrt. Nur sich selbst gegenüber sollte sie aufmerksam bleiben und die eigenen Möglichkeiten und Grenzen im Blick behalten – selbiges gilt für ihre Rezipierenden. Texte auf einer Bühne zu verhandeln, ist immer eine Gratwanderung, aber gerade im fragilen Spiel mit dem Augenblick manifestiert sich der besondere Kitzel ihrer Erfahrbarmachung.
Was uns Autor:innen sagen wollen, ist längst nicht mehr eindeutig festzustellen, und dazu trägt die theatrale Bearbeitung wesentlich bei. Diese Offenheit der Lesarten wird sich hoffentlich auch durch zukünftige Eskapaden des Dramatischen nicht unterpflügen lassen, sondern in Bekenntnis zu Unabschließbarkeit und Unsicherheit weiter wachsen.