17. Mai 2016 •
Die Bühne will schon betrachtet werden, als sie noch leer ist. Bereits bevor es losgeht, ist sie gut beleuchtet da und schweigt fragend in den Raum. Bühnenbildner Christoph Ernst hat sich offenbar vorgenommen, den Guckkasten neu zu erfinden: Eine abgeflachte Kiste, brauner Boden und Rückwand, weiß tapezierte Seiten, rosa Decke, Tür hinten rechts, Fenster rechts, ein schwarzer Rahmen außen. Dann wird es kurz dunkel, blitzartig wieder hell – und die Darsteller:innen sind da und springen sofort hinein in den Text von Wolfram Hölls „Drei sind wir“.
Innen und Außen
Regisseurin Thirza Bruncken vom Schauspiel Leipzig setzt vier Ensemblemitglieder an die Verhandlung der Geschichte um ein Elternpaar, das mit und trotz seines todkrank geborenen Kindes nach Kanada auswandert. Hölls dichten und hochlyrischen Text verteilt sie dabei nicht auf feststehende Rollen, sondern lässt ihn in kurzen Passagen, teils in einzelne Wortfragmente zergliedert im ständigen Wechsel sprechen, wodurch er im harmonisch-präzisen Miteinander der Schauspieler:innen eine eigene klangliche Qualität entwickelt. Die vier Darstellenden bleiben über das ganze Stück hinweg im geschlossenen Raum, wobei ihnen mittels Musik und Lichteffekten immer wieder massive Reize von außen zugeführt werden, die ihr Agieren lenken – eine Allegorie des Kontrollverlusts über das eigene Leben, den sie zum Ausdruck bringen.
Rauschen mit Fragezeichen
Die Leipziger Inszenierung verwebt die Ebene des gesprochenen Texts mit zahlreichen weiteren theatralen Mitteln, aus denen besonders zwei hervorstechen. Akustisch sind weite Teile des Stücks mit einem mal elektronischen, mal wasserartigen Rauschen hinterlegt, das sich nicht nur variabel unterstützend unter den Klangteppich mischt oder im Gegenteil störend hervordröhnt, sondern auch zu unterschiedlichen Interpretationen einlädt: Ein Radio ohne Empfang irgendwo in der kanadischen Provinz? Eine alte Kassette, von der sich der Text bruchstückhaft abspult? Oder doch der Angelausflug ans Meer, das immer auch ein bisschen bedrohlich ans Ufer schwappt? Deutliche Akzente setzt in der Inszenierung der bewusste Einsatz von Musik: Neben zwei Liedern, deren merkwürdig steife Vortragsweise mit der inhaltlichen Emotion brechend innere Konflikte deutlich macht, wird auch getanzt – jeweils relativ zum Anfang und Ende des Stückes die gleichen Schritte, die sich immer wieder in vereinzelten Bewegungen der Darsteller*innen fortsetzen und damit ein verbindendes choreografisches Netz über den Abend spannen.
Mehr Spiel als nötig
Die artifiziellen und trotz häufiger Wechsel genau austarierten Positionierungen der Körper auf der Bühne erfahren im Verlauf des Stücks deutliche Veränderungen. Stehen die Schauspieler:innen in der Anfangsphase vor allem für sich und verteilen das Sprechen darüber immer neu im Raum, kommt es nach etwa einer halben Stunde zunehmend zur Aktion miteinander, zu körperlichen Berührungen, die in Gewalt ausarten. Dies fällt zusammen mit einer Steigerung des Schauspielerns in Sprechen und Bewegung, inklusive hysterischen Schreiens und Zusammenbrechens – das wäre nicht nötig gewesen in einer Inszenierung, die ihre stärksten Bilder aus den stummen Posen am Rande zieht, wenn etwa Sebastian Tessenow sich minutenlang nur mit dem Kopf gegen die Wand lehnt und sie doch nicht verrücken kann. Die Verzweiflung der Eltern, die erzählt wird, findet in der steifen Künstlichkeit und Beengtheit der Bühne und der Handelnden einen konsequenteren Ausdruck als im kurzzeitigen authentizitätsbemühten Spiel, das der paradoxen Komplexität der absoluten Ausnahmesituation kaum begegnen kann.
Eine Antwort in aller Konsequenz
Thirza Bruncken verdichtet Hölls Stück inhaltlich vorrangig auf die Frage der emotionalen Zerrissenheit der Eltern eines kranken Kindes und auf deren Leben in Kanada. Das ist eine Interpretationsweise des extrem assoziationsoffenen Textes; tausend andere wären möglich gewesen – die Leipziger Inszenierung wählt diese eine und steht dazu. Der Abend sperrt Wolfram Hölls breit aufgefächertes Bühnengedicht in einen engen Kasten mit tiefer Decke, stellt eine lautstarke ästhetische Behauptung auf und verhandelt sie mit einer beeindruckenden Konsequenz. Das Ergebnis ist ein intensives und dichtes Theatererlebnis, das Kopf und Sinne füllt, indem es eine Form der Präsentation findet, die geschlossener kaum sein könnte: Allein der Kasten, der die Bühne ist, macht klar, dass man hier in etwas hineinschaut, etwas vorgestellt bekommt, das in seinen Bann zieht, indem es aus den verzweigten Konflikten des Stücktextes einige wenige bewusst eindampft.
Diese erste Bühnenversion von „Drei sind wir“ funktioniert, weil sie sehr genau arbeitet und ihre Behauptungen durch die extreme Formalität zu Ende denkt. Sie beweist einmal mehr, dass das Theater sich nicht einfach ultimativ eines Stücks annehmen kann, sondern immer an und mit sich selbst arbeiten muss. Gerade durch die eigene Geschlossenheit ist der Abend so augenfällig nur ein Beispiel der Interpretation, dass er die Lust an der Wolfram Hölls Stücktext inhärenten Offenheit nicht abwürgt, sondern der ungesicherten Vielfalt von Lesarten vielleicht sogar bei neuen Höhenflügen assistieren kann.